1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Russische Soldatenmutter: "Ein Blutbad"

Oxana Ivanova
29. März 2022

Der 26-jährige russische Zeitsoldat Jewgenij ist in den ersten Tagen des Kriegs beim Angriff auf den ukrainischen Flugplatz Hostomel bei Kiew umgekommen. Seine Mutter rechtfertigt trotzdem Russlands Vorgehen.

Ukraine-Krieg | zerstörte russische Panzer
Zerstörte russische Panzer in der Nähe von Sumy in der Ukraine, die Aufnahme stammt vom 7. März 2022Bild: IRINA RYBAKOVA/UKRAINIAN GROUND FORCES/REUTERS

Am 24. Februar begann Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wladimir Putin bezeichnet ihn jedoch als "spezielle Militäroperation im Donbass". Auch russische Soldaten sterben in diesem Krieg. Oftmals wussten sie und ihre Familienangehörigen offenbar bis zuletzt nicht, wohin sie geschickt werden würden.

Seit Kriegsbeginn vor gut einem Monat hat das russische Verteidigungsministerium nur zweimal über Gefallene berichtet. Demnach seien mit Stand vom 25. März 1351 russische Soldaten in der Ukraine getötet worden. In Wirklichkeit könnten es aber zwischen 7000 und 15.000 sein, schreibt die "Washington Post" und beruft sich dabei auf einen hochrangigen NATO-Vertreter. Die russische Zeitung "Komsomolskaja Prawda" meldete am 20. März unter Berufung auf das Verteidigungsministerium 9861 Tote, löschte aber am nächsten Tag den Artikel mit der Begründung, es habe sich um eine Hacker-Attacke gehandelt.

Der russische Zeitsoldat Jewgenij, im Rang eines Oberfeldwebels, starb in den ersten Kriegstagen in der Nähe von Kiew. Der 26-Jährige hatte noch nie an Kampfhandlungen teilgenommen. 

Seine Mutter Natalja (Name geändert) hat ihren Sohn verloren - dennoch rechtfertigt sie die russische Invasion in der Ukraine. Allerdings findet Natalja, dass es sich um einen richtigen Krieg und nicht um eine "Spezialoperation" handelt.

Die DW hat sich entschieden, ein Interview mit ihr als Erfahrungsbericht einer Mutter zu veröffentlichen, die ihren Sohn in dem von Russland geführten Krieg gegen die Ukraine verloren hat. 

Die Protagonistin des Interviews macht Aussagen über die Ursachen des Krieges, die dem gegenwärtigen Stand der Dinge widersprechen. Aber die DW hat sich entschieden, sie im Text zu belassen. Diese Aussagen beweisen deutlich die langjährige Arbeit der russischen staatlichen Propaganda.

DW: Natalja, wie fühlen Sie sich?

Natalja: Es ist sehr hart, es tut sehr weh. Aber ich kann nichts dafür, keiner wird mir meinen Sohn zurückgeben.

Wie wurde Jewgenij Zeitsoldat?

Unmittelbar nach den Prüfungen 2014 ging er zur Armee. Er kam zu einer Spezialeinheit des Militärnachrichtendienstes GRU. Schon damals bot man ihm einen Vertrag an. Irgendwie habe ich ihn davon abgebracht, schließlich bedeutete dies Einsätze in Krisenherden.

Dann bewarb er sich bei der Polizei und arbeitete währenddessen für einen Sicherheitsdienst. Doch der Job missfiel ihm und er versuchte es dann doch mit jenem Vertrag. Man nahm ihn sofort und uns blieb nur ein Abend zur Verabschiedung. Jewgenij diente in der Nationalgarde. Es gefiel ihm sehr und er wurde Gruppenleiter. Er löste in Moskau Demonstrationen auf.

2017 bekam er einen Sohn. Seine Frau kennt er noch aus der Zeit beim Sicherheitsdienst. Sie zog zu ihm nach Moskau, wo sie heirateten.

Ein zerstörter Panzer in der Nähe von Kiew, Aufnahme vom 10. März 2022Bild: Felipe Dana/AP Photo/picture alliance

Wie begann die Geschichte mit der Ukraine?

Es war Ende Januar, um den 25. und 26. herum. Mein Sohn rief an und sagte, sie würden nach Smolensk geschickt (eine Stadt im Westen Russlands, rund 80 Kilometer von der Grenze mit Belarus - Anm. d. Red.) zu Manövern mit Belarus. Ich sagte zu ihm: "Lügst du mich an? Was für Manöver?" Ich recherchierte im Internet und tatsächlich gab es Manöver mit Belarus, die aber vorbei waren. Ich suchte weiter und wollte herausfinden, wo wir Krieg haben. An die Ukraine habe ich nicht einmal gedacht. Erst am nächsten Tag fiel mir ein, dass wir ja in der Ukraine Unruhen haben.

Das heißt, Ihnen war klar, dass Ihr Sohn nicht zu Manövern abkommandiert wird?

Ja. Ich habe Jewgenij gesagt, dass ich nicht dumm sei und nicht glaube, dass er nach Smolensk fahre. Ich recherchierte weiter und mir wurde klar, dass er in die Ukraine fährt.

Ich wollte ihn natürlich davon abbringen. Ich sagte, dass er vielleicht nicht mehr zurückkommen werde. Er antwortete: "Was spinnst Du da?" Ihm war überhaupt nicht bewusst, wohin er geschickt wird. Entweder hat man sie so sehr einer Gehirnwäsche unterzogen, dass sie glaubten, zu Manövern zu fahren, oder er wusste es und konnte sich aber nicht vorstellen, dass es dort so ein Blutbad geben würde. Wahrscheinlich hat das niemand gedacht, nicht einmal Putin selbst.

Hatten Sie danach noch Kontakt?

Er ist am 13. Februar abgefahren. Ich habe ihn noch scherzhaft gefragt, wie ihm Smolensk gefalle und was es zu Essen gebe. Er lachte und sagte, alles sei in Ordnung. 

Das letzte Mal meldete er sich am Morgen des 24. Februar, als alles begann. Über WhatsApp eines Kameraden sagte er: "Mama, der Krieg hat begonnen." Ich sagte: "Mein Sohn, ich sehe das im Fernsehen." Er sagte: "Stell Dir vor, eine ganze Kompanie unserer Jungs ist an der Grenze getötet worden." Ich wollte wissen: "Wo bist du?" - "Ich bin in Smolensk, Mama", war die Antwort.

Ich denke, dass er auch dort irgendwo in der Nähe war, denn nur von der Grenze aus konnte er zu jenem Flugplatz (Hostomel bei Kiew - Anm. d. Red.) geflogen sein. Ich sagte: "Mein Sohn, halte durch." Die Antwort war: "Also, tschüss, Mama. Ich habe keine Zeit mehr. Sag meiner Frau, dass alles in Ordnung ist." Ab dann hörten wir bis zum 8. März nichts mehr.

Wie haben Sie diese zwei Wochen ohne Kontakt zu ihm verbracht?

Ich hatte ständig mein Telefon dabei. Tagelang habe ich ferngesehen und im Internet gesucht. Ich dachte, vielleicht werde ich irgendwo sein Gesicht entdecken. Jeden Tag ging ich zur Kirche, zündete eine Kerze für ihn an und bat um Gebete für ihn. Aber er war schon vorher gefallen.

Bereits am 24. Februar war Jewgenij in Hostomel. Er war nicht am 27. Februar umgekommen, wie in der Sterbeurkunde steht, sondern viel früher, vermutlich am Abend oder in der Nacht vom 24. auf den 25. Februar.

Warum denken Sie das?

Im Internet habe ich gelesen, dass unsere Soldaten am 24. Februar Hostomel eingenommen hatten, woraufhin alle unsere Jungs dorthin geschickt wurden. Dann wurden sie von Kiew aus beschossen. Unsere Jungs wurden umzingelt und niemand kam ihnen zu Hilfe. Sie wurden einen ganzen Tag lang beschossen und bombardiert. Man muss sich das mal vorstellen, ein Flugplatz ist ein offenes Feld.

Schon am 25. Februar nahmen unsere Soldaten Hostomel erneut ein, und am 26. Februar wurde Jewgenij gefunden. Aber informiert wurde ich erst am 8. März. Gegen 13.30 Uhr riefen sie von seiner Einheit an und sagten, mein Sohn sei in einer Schlacht in der Nähe von Rostow (Rostow am Don, eine Stadt im Süden Russlands rund 60 Kilometer von der ukrainischen Grenze - Anm. d. Red.) umgekommen. Da habe ich fast den Verstand verloren.

In der Nähe von Rostow am Don?

Ich weiß nicht, warum das in dieser Form gemeldet wurde. Vielleicht, weil er im Leichenhaus in Rostow lag und man dort keine verifizierten Informationen hatte.

Haben Sie in den vergangenen Jahren mit Jewgenij über das Thema Ukraine gesprochen?

Um ehrlich zu sein, nein. 

Verstehen Sie, warum dieser Krieg begonnen wurde?

Ich denke, wenn nicht wir bombardiert hätten, hätten die Ukrainer uns bombardiert. Es blieb keine andere Wahl. Aber irgendetwas ist schiefgelaufen, womit niemand gerechnet hatte. Jetzt, wo schon so viele Soldaten gefallen sind, kann man nicht mehr aufhören. Man muss weitermachen, bis zum Sieg.

Verstehen Sie, was Russland in der Ukraine macht? Wofür hat Jewgenij gekämpft?

Mein Sohn hat für uns, für Russland und die Russen gekämpft. Damit wir jetzt telefonieren, trinken und essen können. Er ist dort nicht vergeblich gefallen, sondern für uns, damit wir lang und glücklich leben, damit bei uns kein Krieg herrscht, damit auf uns keine Bomben fallen.

In Russland ist es verboten, diesen Konflikt als Krieg zu bezeichnen. Empfinden Sie ihn selbst als Krieg oder als "Spezialoperation"?

Nein, ich sehe das nicht als "Spezialoperation". Das ist ein richtiger Krieg. Mir ist klar, dass man ihn als solchen nicht anerkennen darf, aber es ist ein Krieg. Es ist ein Blutbad.

Das Gespräch führte Oxana Ivanova. 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen