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Politik

Ukraine-Krieg: Wie weiterleben nach der Tragödie von Dnipro?

15. Februar 2023

In Russlands Krieg gegen die Ukraine ist der Einschlag einer russischen Rakete in ein Hochhaus in der Stadt Dnipro eine der großen Tragödien. Zwei Frauen, die das überlebt haben, erzählen wie es ihnen heute geht.

Ruine des Wohnhauses in Dnipro, das in der Mitte von einer russischen Rakete getroffen wurde
Bei dem Raketeneinschlag in dieses Wohnhaus in Dnipro starben 46 Menschen, 80 weitere wurden verletztBild: DW

Der russische Angriff auf die Stadt Dnipro im Januar zählt zu den blutigsten. Beim Einschlag eines Überschall-Marschflugkörpers vom Typ Ch-22 in ein ukrainisches Wohnhochhaus wurden den Behörden zufolge mindestens 46 Menschen getötet und 80 verletzt. Fünf Opfer liegen noch immer im Krankenhaus. Dutzende Menschen, die ihre Wohnungen sowie Angehörige und Freunde verloren haben, leiden unter den Folgen der Tragödie.

Die junge Frau aus den Nachrichten

Die 24-jährige Anastasia Schwez wird manchmal von Menschen auf der Straße erkannt. Auch auf ihrer Instagram-Seite weist sie darauf hin, dass sie die "junge Frau ist, die jetzt in allen Nachrichten über die Stadt Dnipro ist".

Anastasia gehört zu den Überlebenden des russischen Raketenangriffs vom 14. Januar. An diesem Tag verlor sie ihre Eltern, ihre Katze, ihre Wohnung und ihr gewohntes Leben. Es fällt ihr immer noch schwer, zum zerstörten Haus zurückzukehren, aber sie möchte erzählen, was sie durchgemacht hat. "Immer wenn man darüber spricht, ist es einem leichter ums Herz, auch wenn man nichts mehr ändern kann und damit leben muss", sagt sie.

Ein Bild geht um die Welt: Anastasia Schwez kann aus ihrer zerstörten Wohnung im 6. Stockwerk gerettet werdenBild: Arsen Dzodzayev/Hromadske

Anastasia lebte seit ihrer Kindheit zusammen mit ihren Eltern in dem nun zerstörten Wohnhaus. Ihre Mutter Natalja arbeitete in einer Bank und ihr Vater Maksym war als Mechaniker für eine Autowerkstatt tätig. Anastasia engagierte sich zusammen mit ihrer Mutter für den Tierschutz, vor allem für streunende Katzen. Sie fütterten sie und suchten für sie ein Zuhause. Mit Kriegsbeginn verlor Anastasias Vater seinen Job, worauf er sich als Freiwilliger für den Bau von Straßensperren in der Stadt meldete.

Trauer um Eltern und Freund

Nach dem Mittagessen am Samstag, dem 14. Januar, saßen ihre Eltern, so Anastasia, in der Küche und bastelten Kerzen für Soldaten in Schützengräben. Sie selbst wollte sich ausruhen, da sie nachts in einer Bäckerei arbeiten musste. "Nur zehn Minuten später, als ich mein Handy neben mich legte, um zu schlafen, hörte ich ein gewaltiges Dröhnen, es war wie ein Erdbeben", erinnert sich die junge Frau an den Moment des Raketeneinschlags.

Fast das gesamte Treppenhaus des neunstöckigen Gebäudes war zerstört - bis auf das Erdgeschoss. Von der Wohnung im sechsten Stock, in der Anastasia lebte, war nur noch der Flur und ein Teil des Zimmers übrig, in dem das Bett stand, in dem sie lag. "Ich fing an, meine Eltern anzurufen, obwohl mir klar war, dass die Küche überhaupt nicht mehr vorhanden war", erinnert sich Anastasia.

Sie kroch an den Rand des Raums und versuchte, die Rettungskräfte auf sich aufmerksam zu machen. In dem Moment entstand ein Bild von ihr mit nackten Beinen, das durch alle sozialen Netzwerke ging. Damals hoffte sie noch, ihre Eltern hätten überlebt, doch am nächsten Tag wurden ihre Leichen aus den Trümmern geborgen.

Seit dieser Tragödie lebt Anastasia bei ihrer Großmutter und Tante. Sie ist nach wie vor krankgeschrieben, hofft aber, bald wieder arbeiten zu können. Sie gibt zu, laute Geräusche, klappernde Türen und Luftalarm würden ihr Angst machen, manchmal müsse sie daher Beruhigungstabletten nehmen.

Der Verlust ihrer Eltern ist für sie nicht der erste in diesem Krieg. Im September fiel Anastasias Freund Wladislaw als Soldat bei der ukrainischen Gegenoffensive in der Region Charkiw. "Ich habe diesen Verlust noch nicht verarbeitet, und nun sind meine Eltern auch nicht mehr hier. Ich trage die Trauer nach ihnen jetzt ständig in mir", sagt die junge Frau mit Tränen in den Augen.

"Wir sollten nicht sterben"

Wenn sie die Worte "Guten Tag" hört, lächelt die Psychologin Olha Botwinowa. Auch sie lebte mit ihrem Mann Jewhen in jenem Wohnhaus in Dnipro. "An diesem Tag, dem 14. Januar, haben wir komischerweise Pläne für die nächsten sechs Monate geschmiedet. Es war einfach eine unglaubliche Stimmung, ein Zeichen dafür, dass wir nicht sterben sollten", glaubt die Frau heute.

Olha hat den Einschlag einer russischen Rakete in ihr Wohnhaus überlebtBild: DW

Für Olha ist der Tag des Raketenangriffs wie ihr zweiter Geburtstag. Es sei ein Wunder gewesen, dass sie überlebt habe. "Ich saß in einem Zimmer, das nicht mehr existiert, und habe an meinem Laptop gearbeitet. Plötzlich rief mein Mann mich zu sich ins Nebenzimmer. Ich gehe zu ihm. Wenige Minuten später passierte, was passiert ist", sagt sie.

Als Olha und ihr Mann zu sich kamen, wollten sie zunächst die Treppe von ihrer Wohnung im neunten Stock hinuntergehen, aber sie sahen einen Abgrund hinter der Tür des erhalten gebliebenen Zimmers. Olha blutete aus der Schläfe und ihr Mann, von Beruf Chirurg, machte ihr aus einem T-Shirt einen Verband um den Kopf. Dann nahm er eine Taschenlampe und begann, den Rettungskräften vom Fenster aus Zeichen zu geben. Einige Stunden später konnte das Paar aus der Höhe gerettet werden.

"Das ist unser dritter Neustart"

Die russische Aggression gegen die Ukraine hat Olhas und Jewhens Leben bereits mehrmals völlig verändert. Ursprünglich kommen sie aus Donezk. Als 2014 der Krieg im Donbass begann, packten sie die Koffer und zogen nach Cherson. Als die Stadt im Frühjahr 2022 von Russland besetzt wurde, mussten sie sich erneut eine andere Bleibe suchen. Das Paar flüchtete in den von Kiew kontrollierten Teil des Landes und ließ sich in dem nun zerstörten Wohnhaus in Dnipro nieder.

Am 15. Januar, dem Tag nach dem Raketenangriff, erfuhren Olha und Jewhen, dass auch ihre vorherige Wohnung in Cherson durch eine russische Rakete zerstört wurde. "Wir machen zum dritten Mal einen Neustart. Aber wir leben und das Materielle wird sich mit der Zeit schon ergeben", sagt Olha mit einem bitteren Lächeln.

Olha und Jewhen leben jetzt in einer Wohnung, die ihnen ein Ehepaar zur Verfügung gestellt hat. Es hatte Opfern der Tragödie in sozialen Netzwerken Hilfe angeboten. Auch Kleidung haben Olha und Jewhen von Bekannten, aber auch von Fremden gespendet bekommen. Olha lobt die Geschlossenheit und Hilfsbereitschaft der Menschen. Ihr Mann arbeitet bereits wieder im Krankenhaus, und sie selbst will schon bald Workshops in Psychologie geben.

Wie das Leben weitergehen soll

Sowohl Anastasia als auch Olha sagen, dass sie sich nicht mit Gedanken über diejenigen belasten wollen, die die Rakete abgefeuert haben, die ihr Wohnhaus getroffen hat. Olha betont, sie wolle positiv denken, um sich "nicht ein Leben lang als Opfer zu fühlen". Sie entwickelt jetzt Projekte zur psychologischen Unterstützung von Kriegsopfern. Anastasia sagt, mit Wut könne sie "ihre Eltern nicht zurückholen". Die junge Frau sammelt Spenden für die ukrainische Armee, "damit unsere Jungs diesen Abfall auf unserem Territorium vernichten können", sagt Anastasia - und sie meint damit die russischen Invasoren.

Beide Frauen haben einen Raketeneinschlag überlebt und sagen, ihr Leben müsse irgendwie weitergehen. "Ich muss nicht nur für mich weiterleben, sondern auch für meine Eltern, damit ihr Lebenswerk nicht vergeblich war", sagt Anastasia.

Und Olha betont, die Tatsache, dass sie überlebt habe, habe ihr bewusst gemacht, dass sie kein moralisches Recht habe, aufzugeben: "Jeder Tag ist ein großes Wunder und bietet die Chance, weiterzumachen und zu leben. Ich habe diese Chance, im Gegensatz zu den Menschen, die auch in unserem Wohnhaus waren, die Kinder und Pläne fürs Leben hatten, die aber nicht überlebt haben. Ich habe diese Chance und darf sie nicht verstreichen lassen!"

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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