Russlands "Anti-Woke-Visum" für westliche Auswanderer
12. Juli 2025
Russell hat es geschafft: Der Australier hat in Russland das sogenannte "Shared Values Visa" (Deutsch: Gemeinsame-Werte-Visum) erhalten. Seinen finalen Behördengang hat er auf seinem Youtube-Kanal "Travelling with Russell" dokumentiert. "Ich habe nun drei Jahre, um hier zu leben, einen Job zu finden und zu wohnen", sagt Russell danach in die Kamera. Das Video haben sich sieben Wochen nach Veröffentlichung mehr als 43.000 Menschen angesehen.
Mit seinem Wunsch nach einem Leben in Russland ist Russell nicht allein. In den sozialen Netzwerken gibt es viele weitere Accounts von westlichen Auswanderern, die in Russland leben oder es vorhaben, und die Russland als lebenswerteres Land anpreisen. Die Entwicklung in ihren Herkunftsländern, etwa im Bereich Familie, Religion, LGBTQ und Migration, nehmen sie als zu liberal wahr, die Aussicht auf eine stärker konservativ geprägte Gesellschaft verfängt bei ihnen.
Aussiedler-Videos von Russland orchestriert?
Doch die Aktivitäten von Bloggern wie Russell auf Social Media, die aus moralischer Überzeugung aus dem Westen nach Russland ausgewandert sind, könnten teilweise von Moskau unterstützt oder sogar angeleitet sein.
So berichtete das Online-Magazin "Important Stories" im März, dass der russische Auslandssender RT - vielerorts im Westen mit Sanktionen belegt - Social-Media-Videos finanzieren soll, in denen umgesiedelte Ausländer Russland loben und den Westen kritisieren. Demnach steckten etwa hinter dem Youtube-Channel "Russian Road", der eben solche Videos beinhaltet, Mitarbeitende des russischen Staatssenders. Und auch russische Staatsmedien selbst berichten ausführlich über die in ihren Augen erfolgreichen Fälle westlicher Migration nach Russland.
Putin: "Bereitstellung humanitärer Unterstützung"
Die informell auch als "Anti-Woke-Visum" bezeichnete Aufenthaltsgenehmigung wurde im August 2024 von Präsident Wladimir Putin per Dekret eingeführt, wobei "woke" so viel wie politisch bewusst und engagiert gegen rassistische, sexistische und soziale Diskriminierung bedeutet. Darin steht, das Visum diene der "Bereitstellung humanitärer Unterstützung für Personen, die traditionelle russische spirituelle und moralische Werte teilen".
Bürger oder Personen mit ständigem Wohnsitz in europäischen Ländern, den Vereinigten Staaten, Australien, Japan und einigen anderen Ländern können das "Shared Values Visa" beantragen. Sie müssen nicht nachweisen, der russischen Sprache mächtig zu sein, etwas über die Landeskultur zu wissen oder die Gesetze zu kennen. Allerdings müssen Antragstellende erklären, mit der Politik ihres Herkunftslandes nicht einverstanden zu sein. Das Visum wird normalerweise für drei Jahre ausgestellt und kann verlängert werden.
Was bezweckt Russland mit dem "Shared Values Visa"?
"Zuallererst ist das Symbolpolitik", sagt Katharina Bluhm, Leiterin der Abteilung Soziologie am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Dabei werde gleichzeitig in zwei Richtungen kommuniziert, nach innen und nach außen: "Seinen eigenen Bürgern zeigt Russland mit dem Visum und den positiven Geschichten westlicher Einwanderer: 'Guckt mal, es gibt Leute, die kommen zu uns, weil wir das erfüllen, was sie im dekadenten Westen vermissen. Sie wollen auch zurück zu den christlichen, abendländisch Werten.'"
Und an die westliche Welt signalisiere man: "'Ihr könnt zu uns kommen, wenn euch das alles so stört, wir vertreten das bessere Europa, das Europa des Patriotismus und der traditionellen Werte und Geschlechterrollen, das es anderswo nicht mehr gibt.'"
Doch abgesehen von der Symbolik spielen laut Bluhm sicherlich auch Russlands gravierende demographische Herausforderungen eine Rolle. Denn die russische Bevölkerung schrumpft seit Jahren, trotz staatlicher Förderungen ist die Geburtenrate zu niedrig. Und Russlands Angriffskrieg in der Ukraine hat zu hohen Verlusten und zusätzlicher Abwanderung vor allem junger Russen geführt.
"Russland ist noch sicher für traditionelle, christliche Familien"
Da dürften Familien wie die Feenstras, die mit acht Kindern aus Kanada nach Russland ausgewandert sind, mehr als willkommen sein. Auf ihren Social-Media-Kanälen berichten sie detailliert über ihr neues Leben. Vater Arend erklärt in einem der Videos: "Russland ist eines der wenigen Länder, das noch sicher für traditionelle, christliche Familien ist." Darüber hinaus sei es in Kanada immer schwieriger geworden, seine Familie zu ernähren, in Russland sei die finanzielle Lage besser.
Mit solchen zusätzlichen Vorteilen werben auch Plattformen, die bei der Beantragung des "Shared Values Visa" unterstützen. Da ist etwa die Rede von niedrigen Steuern, kostenloser Bildung, exzellenter Gesundheitsversorgung und niedrigen Lebenshaltungskosten.
All das fällt bei einigen Menschen aus westlichen Ländern auf fruchtbaren Boden. Laut einer Sprecherin des russischen Innenministeriums haben bis Mai, also neun Monate nach Einführung, 1156 Menschen das "Shared Values Visa" beantragt, die größte Gruppe davon (224) seien Deutsche. Doch um Russlands Demographieproblem zu lösen, wird das wohl kaum ausreichen.
Teil der russischen Propaganda
Das "Anti-Woke-Visum" und seine mediale Darstellung ist nur einer von Russlands vielen systematischen Propaganda- und Desinformationsversuchen. In anderen Bereichen hat Moskau sogar mutmaßlich zu drastischeren Methoden gegriffen. Im US-Wahlkampf etwa sollen Schauspieler engagiert worden sein, um Fake-Videos aufzunehmen.
Auch Russland-Expertin Bluhm sieht das "Shared Values Visum" im Kontext der russischen Propaganda-Maschinerie. Gleichzeitig scheine es, als wolle Russland sich nun verstärkt die "richtigen" Ausländer ins Land holen, um seinen demographischen Problemen entgegenzuwirken.