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Russland: De-facto-Abtreibungsverbot durch die Hintertür?

Evgeniy Dyuk
21. September 2025

In Russland steigt der Druck auf Frauen - wegen des Krieges und sinkender Geburtenraten. Die Forderungen nach einem Abtreibungsverbot werden lauter. Immer mehr private Kliniken führen Abbrüche nicht mehr durch.

Neugeborene liegen aufgereiht in einer russischen Entbindungsklinik, im Hintergrund ist eine Hebamme mit einem Baby in den Händen zu sehen
Neugeborene in einer russischen EntbindungsklinikBild: ITAR-TASS/IMAGO

Antonina (Name geändert - Anm. d. Red.) aus St. Petersburg erfuhr im Sommer von ihrer Schwangerschaft. Die Frau entschied sich aber aufgrund ihrer schwierigen finanziellen Lage für eine Abtreibung. Die Familie hat bereits ein kleines Kind, zudem ist Antonina seit kurzem arbeitslos. Doch der Eingriff erwies sich als teuer, und Ärzte mehrerer Kliniken verzögerten ihn absichtlich. "Ich habe Informationen erhalten, nach denen Ärzten für jeden 'erfolgreichen' Fall 20.000 Rubel geboten werden - wenn sie eine Frau von einer Abtreibung abbringen können", berichtet sie der DW.

Wie Kliniken Abtreibungen erschweren

Die russischen Behörden erschweren den Zugang zu Abtreibungen zunehmend - und das auf eine Weise, die einem faktischen Verbot gleichkommt. Immer mehr private Kliniken verweigern die Durchführung von Abtreibungen oder verzögern sie unter staatlichem Druck. So berichten Menschenrechtsaktivisten in der Region Murmansk von einem faktischen Verbot medikamentöser Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche. Danach bleiben den Frauen nur noch traumatisierendere Methoden wie Vakuumaspiration oder Kürettage, auch Ausschabung genannt.

Dies geschieht vor dem Hintergrund der sich verschlechternden demografischen Lage in Russland. Seit Mai dieses Jahres veröffentlichen die russischen Behörden keine Bevölkerungsstatistiken mehr. Kurz zuvor berichtete der ehemalige Rosstat-Experte Alexej Rakscha von einem historischen Tiefstwert der täglichen Geburtenzahl – seit Beginn der Statistik im 18. Jahrhundert.

Eine Familie mit Kindern beim Spaziergang in der russischen Stadt PermBild: Pogiba Aleksandra/globallookpress.com/picture alliance

Der russische Staat versucht, die Geburtenrate durch Abtreibungsbeschränkungen zu erhöhen. In mehreren Regionen, darunter in Murmansk und Nischni Nowgorod, haben die Behörden offiziell Pläne verkündet, Psychologen und Ärzte finanziell zu belohnen, sollten sie bei einer Frau keine Abtreibung vornehmen. In St. Petersburg wurde dies noch nicht offiziell angekündigt, aber für die "Anstiftung zur Abtreibung" drohen Geldstrafen: bis zu 20.000 Rubel für Einzelpersonen und 30.000 bis 50.000 für juristische Personen.

Das erste Hindernis war laut Antonina die lange Dauer des Genehmigungsverfahrens. "Ich kontaktierte eine große Kette privater Kliniken. Dort überwiesen sie mich von einem Spezialisten zum anderen und teilten mir schließlich mit, dass in der ganzen Stadt in nur einer Abteilung ein Schwangerschaftsabbruch möglich sei", sagt sie. Laut Gesetz müssen Kliniken einer Frau 48 Stunden Bedenkzeit geben. Danach wurde sie über die Notwendigkeit zahlreicher Tests informiert und so kam es erneut zu einer Pause. Damit war die Frist für einen medizinischen Abbruch von sechs Wochen abgelaufen.

"Es waren bei mir sechs Wochen und ein Tag - wegen der langen Wartezeit. Dann wäre nur noch eine Vakuumaspiration in Frage gekommen", erinnert sich Antonina und sagt, dass sie schließlich eine hohe Rechnung erhalten habe. Letztlich gelang es ihr, eine Klinik zu finden, in der die Fristen flexibler waren. "Wenn man das durchgemacht hat, wird einem bange. Das ist meine erste Erfahrung mit einem Schwangerschaftsabbruch. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das jemals passieren würde. Außerdem ist es beängstigend, dass man sein Leben nicht mehr kontrollieren kann", sagt Antonina.

Geldstrafen für "Anstiftung zur Abtreibung"

Laut dem russischen Webportal RBK gelten seit September 2025 in 23 russischen Regionen Geldstrafen für die "Anstiftung zur Abtreibung". Dieses Gesetz wurde erstmals in der Teilrepublik Mordwinien auf lokaler Ebene verabschiedet und sieht eine strafrechtliche Verantwortung für die Verleitung zum künstlichen Schwangerschaftsabbruch vor. Als "Anstiftung" gilt jede Art der Einflussnahme auf eine Frau mit dem Ziel, sie zu einer Abtreibung zu bewegen: Überredung, Angebote, Täuschung oder Bestechung. In einigen Regionen drohen Ärzten oder Klinikleitungen bei einem solchen Verstoß Strafen von bis zu 50.000 Rubel (ca. 500 Euro) und Institutionen von bis zu 200.000 Rubel (ca. 2000 Euro) sowie der Entzug der ärztlichen Zulassung.

Es gibt aber keine dokumentierten Fälle, in denen Ärzte wegen "Anstiftung zu einem Schwangerschaftsabbruch" haftbar gemacht wurden. Die DW konnte hierzu keine öffentlich zugänglichen Informationen finden. Experten zufolge kann jedoch allein die Androhung einer Geldstrafe bei Fachärzten Angst vor den Folgen auslösen. In Nischni Nowgorod beispielsweise wurde versucht, eine Frau mit medizinischen Kontraindikationen von einem Schwangerschaftsabbruch abzubringen. Gleichzeitig meldeten die regionalen Behörden eine Rekordzahl an Weigerungen privater Kliniken, Abtreibungen vorzunehmen: Seit Anfang 2025 haben 46 von 55 Einrichtungen (84 Prozent) freiwillig ihre Lizenzen für solche Eingriffe abgegeben.

Auch in der Region Wologda werden die Beschränkungen für Abtreibungen verschärft. Anfang des Jahres forderte der Gouverneur der Region, Georgij Filimonow, ein vollständiges Verbot in staatlichen und privaten Kliniken. Dies wirkt sich direkt auf das Leben der einfachen Menschen vor Ort aus. Im April wurde einer Frau eine Abtreibung mit der Begründung verweigert, es gebe eine mündliche Anordnung des regionalen Gesundheitsministeriums sowie "moralische und religiöse Erwägungen". Die Frau ließ schließlich in der benachbarten Region Jaroslawl eine Abtreibung vornehmen und zog vor Gericht. Der amtierende Chefarzt des Entbindungsheims wurde zu einer Geldstrafe von 15.000 Rubel (ca. 150 Euro) verurteilt, weil die Klinik den Eingriff verweigert hatte.

Wer will ein vollständiges Abtreibungsverbot?

Regierungsnahe Strukturen fordern zunehmend ein vollständiges Abtreibungsverbot in Russland. Einer der wichtigsten Lobbyisten dafür ist die Russische Orthodoxe Kirche. Bereits 2019 erklärte Metropolit Hilarion (Alfejew) von Wolokolamsk, seine Kirche betrachte Abtreibungen als "legalisierten Mord an einem ungeborenen Menschen", und 2022 forderte Patriarch Kyrill ein Verbot in privaten Kliniken.

Russlands Staatchef Wladimir Putin und der Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche, KyrillBild: Alexander Nemenov/AFP/dpa/picture alliance

Parallel dazu organisierte die rechtsextreme Organisation "Russische Gemeinschaft" im Jahr 2025 eine Verfolgung von Ärzten in Kliniken in Kaluga. Aktivisten drangen in Krankenhäuser ein, beschuldigten Fachärzte, "russische Kinder zu töten" und sorgten für öffentlichen Druck in sozialen Netzwerken. In einem Fall war der Gynäkologe Jewgenij gezwungen, seine beruflichen Pflichten zu verteidigen, nachdem die Organisation begonnen hatte, Informationen über ihn zu verbreiten und ihn als "Abtreibungsarzt" zu bezeichnen. Zuvor war die "Russische Gemeinschaft" bereits in eine andere Klinik in Kaluga gestürmt und hatte der Hebamme "Zynismus" vorgeworfen, weil sie Informationen über Abtreibungspillen verbreitet hatte.

Position des Kremls zu einem Abtreibungsverbot

In den vergangenen zehn Jahren hat der Kreml auch seine Rhetorik verschärft. Noch 2016 stellte Pressesprecher Dmitrij Peskow fest, dass die Regierung sich nicht an der Diskussion über ein Verbot beteilige, da es in der Gesellschaft diametral entgegengesetzte Positionen gebe und die Russische Orthodoxe Kirche aktiv an der Diskussion beteiligt sei. Bis 2024 konzentrierte sich Peskow auf demografische Indikatoren: Die Geburtenrate in Russland sei auf ein katastrophal niedriges Niveau von 1,4 gefallen, und seiner Ansicht nach könne das Problem nur durch eine Erhöhung der Rate gelöst werden. Im Jahr 2025 weigerte er sich schließlich, zu einem möglichen Abtreibungsverbot in russischen Regionen Stellung zu nehmen.

Auch die Position von  Präsident Wladimir Putin hat sich gewandelt. 2017 warnte er, ein Abtreibungsverbot würde zu einem Anstieg heimlicher Eingriffe im Inland und von Auslandsreisen von Frauen führen. 2021 sprach er über die Notwendigkeit, die Lebensbedingungen für Familien zu verbessern, statt sie nur von Abtreibungen abzuhalten, und 2023 betonte er die Rechte und Freiheiten der Frauen. Angesichts der demografischen Entwicklung im Jahr 2024 und 2025 beklagte Putin zuletzt einen Mangel an Frauen im gebärfähigen Alter. In diesem Zusammenhang hob er die Größe des russischen Territoriums hervor und warnte, dass es bei der aktuellen demografischen Entwicklung schwierig sei, diese zu bewahren.

Adaptation aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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