"Russland führt in der Ukraine einen Abnutzungskrieg"
14. August 2025
DW: Herr Reisner, in den vergangenen Tagen gab es viele Berichte darüber, dass Russland ein Durchbruch in der Region Donezk gelungen ist. Was ist Ihre Meinung dazu?
Markus Reisner: Man muss zuerst feststellen, dass wir zwar einen Einbruch in die ukrainischen Verteidigungsstellungen sehen - dieser Einbruch hat auch Raum gewonnen, man schätzt bis zu 13 Kilometer, aber man kann noch nicht von einem sogenannten operativen Durchbruch sprechen.
Wir haben also im Moment eine unklare Situation, aber wir haben eindeutig den Umstand, dass russische Kräfte nördlich von Pokrowsk und weiter vorgestoßen sind. Das sind aber vor allem noch Kräfte in Stärke von kleineren Gruppen - Trupps oft bis zu 15 Mann stark, aber noch kein schweres Gerät.
Das ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass die Ukraine versucht, mit vollem Einsatz von Drohnen ein Nachstoßen von schwerem Gerät zu verhindern. Es kommt jetzt darauf an, ob die ukrainische Seite es schafft, sogenannte operative Reserven rasch heranzuführen, um diesen Einbruch abzuriegeln und vielleicht sogar in der Tiefe zu umfassen und zu zerschlagen.
Sie sprechen von ukrainischen Reserven. Viele Beobachter sind der Meinung, dass es an Personal fehlt. Stimmen Sie dem zu?
Ja, das ist leider der Fall. Letztes Jahr hat Russland die Initiative zurückgewonnen. Das Momentum ist seitdem bei der Russischen Föderation. Das ist deswegen für die Russische Föderation möglich gewesen, weil sie einfach sukzessive immer mehr an Personal, Ausrüstung und Gerät herangeführt hat.
Aus meiner Sicht hätte die Ukraine letztes Jahr eine Entscheidung treffen müssen: die Mobilisierung der 18- bis 25-Jährigen. Das ist eine ganz schwierige politische Entscheidung, deren Konsequenzen weitreichend sind. Aber wir sehen, dass die Ukraine jetzt genau jene Soldaten brauchen würde.
Bis wohin könnte die russische Armee vorrücken, wenn dieser Durchbruch anhält?
Die russische operative Einsatzführung lässt sich an drei Abschnitten festmachen. Wir haben den sogenannten Nordabschnitt - den Raum zwischen Sumy und Charkiw. Der Mittelabschnitt ist der Raum von Kupjansk bis hinunter nach Saporischschja. Und wir haben den Südabschnitt von Saporischschja bis nach Cherson.
Während die Russen in ihren Angriffen im Norden und im Süden darauf abzielen, die ukrainischen Kräfte zu binden und zu überdehnen, ist das Schwergewicht der russischen Anstrengungen nach wie vor der mittlere Abschnitt. Hier sind die fünf Hotspots: Kupjansk, Siwersk, Kostjantyniwka, Pokrowsk und Nowopawliwka. Das sind jene Städte, wo sich möglicherweise gerade Kessel bilden.
Und was macht Russland hier? Es wendet genau dieselbe Taktik an, so wie wir das auch in den vergangenen Monaten gesehen haben - zum Beispiel bei der ukrainischen Operation in Kursk. Es versucht, durch weitreichenden Einsatz von Drohnen seine Aggression so zu unterstützen, dass die ukrainische Logistik unterbrochen wird. Und damit sind dann diese Städte nicht mehr haltbar.
Es gibt im Mittelabschnitt einige wichtige Knotenpunkte und Verkehrslinien, die für die ukrainische Logistik wie wichtige Arterien fungieren. Russland versucht jetzt durch seinen Vorstoß, so rasch wie möglich und so viele wie möglich von diesen Knotenpunkten einzunehmen oder Linien zu unterbrechen, damit es hier zu keiner weiteren Versorgung der in Bedrängnis geratenen ukrainischen Verbände kommt.
Wenn man den Donbass betrachtet, dann sieht man, dass gerade Kramatorsk und Slowjansk zwei Bollwerke, eine Art Festungsstädte sind. Und Russland versucht natürlich hier auch großräumig eine mögliche Umfassung, um sie in Besitz zu nehmen. Gelingt das? Das wird man sehen. Aber das ist die Absicht der Russen, die sie seit letztem Jahr verfolgen.
Was können in dieser Situation die Länder tun, die auf der Seite der Ukraine stehen?
Es hat Jahre gebraucht, bis der Westen verstanden hat, dass Russland hier versucht, die strategische Tiefe der Ukraine zu brechen. Es ist wichtig zu verstehen, dass es ein Abnutzungskrieg ist. Viele von uns haben keine Vorstellung, was es bedeutet, einen Abnutzungskrieg zu führen. Hier geht es nicht um einen raumzentrierten Ansatz, sondern um einen Ansatz, der auf die Ressourcen abzielt. Und derjenige, der mehr Ressourcen, der mehr Kraft hat, hat dann Erfolg.
Auf der taktischen Ebene haben die Russen sich in den letzten Jahren und Monaten immer wieder neu angepasst und viele ihrer Taktiken machen sehr wohl Sinn und entsprechen auch einer gewissen Logik.
Es ist wichtig, dass wir dieses Eingeständnis endlich zur Kenntnis nehmen. Denn erst dann kann man den Gegner wirklich auch so bekämpfen, wie es auch notwendig wäre. Indem man sich die Situation schönredet, wird man die Situation nicht zugunsten der eigenen Kräfte entscheiden können.
Aus meiner Sicht ist das Ergebnis dieses Einbruchs unter anderem dem Umstand geschuldet, dass man sich eigentlich über Monate der Realität verweigert hat, und genau das rächt sich jetzt.
Oberst Dr. Markus Reisner ist Generalstabsoffizier im österreichischen Bundesheer. Er leitet seit März 2024 das Institut für Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie.
Das Gespräch führte Alyona Zhuravlyova