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PolitikEuropa

Russland: Fronteinsatz statt Freiheitsstrafe

Roman Goncharenko | Sergey Satanovskiy
17. September 2022

Der russische Angriffskrieg stockt, die Ukraine erzielte zuletzt deutliche Geländegewinne. Die Rufe nach einer Generalmobilmachung werden in Russland lauter, doch der Kreml geht andere Wege - auch über Gefängnisse.

Führerhaus eines russischen LKW mit einem aufgeklebten Z
Zurückgelassenes russisches Armeefahrzeug im Gebiet Charkiw, September 2022 Bild: Metin Aktas/AA/picture alliance

Berichte darüber gab es schon seit einiger Zeit, doch jetzt tauchte auch ein Video auf. Anhänger des inhaftierten russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny und einige Telegram-Kanäle verbreiteten am Mittwoch eine Handyaufnahme, die angeblich in einer Strafkolonie aufgenommen wurde. Darauf wirbt ein Mann für den Einsatz im russischen Ukrainekrieg. Er ist kahlköpfig und trägt olivgrüne Militärkleidung. An seiner Uniformjacke hängen zwei Orden, die große Ähnlichkeit zum "Helden der Russischen Föderation" aufweisen, der höchsten Auszeichnung, die in Russland vergeben werden kann.

Freiheit für sechs Monate Kriegseinsatz 

Der Mann auf dem Video ähnelt stark dem berüchtigten Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin, dem enge Verbindungen zum Kreml nachgesagt werden und der Medienberichten zufolge die berühmteste russische Privatarmee unterhalten soll - die "Wagner-Gruppe". Sie soll gerade in der Ukraine kämpfen und Prigoschin dafür diese höchste militärische Ehrung als "Held Russlands" erhalten haben.

Jewgeni Prigoschin, der Anführer von Russlands berüchtigter Söldnergruppe "Wagner", hier auf einem Archivbild von 2016Bild: Mikhail Metzel/TASS/IMAGO

Auf dem Video verspricht der Mann den versammelten Häftlingen Geld und Freiheit im Austausch für sechs Monate Kriegseinsatz als Teil der Wagner-Gruppe. Der Ukrainekrieg sei "hart", so Prigoschin, er brauche "nur Kampfsoldaten". Kremlkritische russische Medien schätzen das Video als authentisch ein. Überraschend sind die Aussagen nicht.

Berichte, dass Russland Häftlinge für den Ukrainekrieg anwerben soll, gibt es seit Monaten. "Prigoschin gibt sich viel Mühe und besucht Strafkolonien persönlich", erklärte Olga Romanowa, Leiterin der Menschenrechtsorganisation "Russland hinter Gittern", bereits im August gegenüber der DW. Den ersten Kampf unter Beteiligung russischer Häftlinge habe es Mitte Juli bei Luhansk gegeben, so Romanowa. Nach ihrer Schätzung habe Prigoschin bis Anfang August mindestens 2500 Strafgefangene für den Kriegseinsatz anwerben können. Ihr zufolge könnten es deutlich mehr werden - bis zu 60.000, so Romanowa. Das wäre jeder zehnte Häftling in Russland.     

Mobilmachung auf Umwegen

Nach der erfolgreichen Gegenoffensive der Ukraine im Gebiet Charkiw sind in Russland Rufe nach einer Generalmobilmachung lauter geworden. Vor allem nationalistische Blogger fordern diese Maßnahme in den sozialen Netzwerken. Der Kreml redet jedoch weiter nicht von einem Krieg, sondern hält an seiner Erzählung einer "Spezialoperation" in der Ukraine fest. Neue Kämpfer werden daher nicht nur vom Verteidigungsministerium, sondern auch auf Umwegen gesucht. So schlug der tschetschenische Anführer Ramsan Kadyrow am Donnerstag eine dezentrale "Eigenmobilisierung" vor. Jede russische Region könne "mindestens tausend freiwillige Kämpfer" ausstatten und ausbilden. Der Staat hätte dann eine Truppe von 85.000 Mann - "fast eine Armee", schrieb Kadyrow bei Telegram. 

Der tschetschenische Anführer Ramsan KadyrowBild: Musa Sadulayev/AP Photo/picture alliance

Eine ähnliche Zahl - 90.000 - nannte ein Vertreter des ukrainischen Verteidigungsministeriums in einem Fernsehinterview Ende August als Zielmarke einer russischen Mobilmachung. Bisher habe Russland Kiewer Schätzungen zufolge rund 160.000 Militärs in den Ukrainekrieg geschickt. 

Einsatz an vorderster Front

Die Anwerbung von Freiwilligen läuft auf diversen Wegen, darunter auch in den besetzten ukrainischen Gebieten. In Russland selbst gebe es mehr als 40 solcher regionaler Einheiten, berichtete die russische Zeitung Kommersant im August. Auch die reguläre Armee wird ausgebaut. Präsident Putin ordnete Ende August an, dass die russischen Streitkräfte um mehr als 130.000 Mann vergrößert werden. Der Erlass tritt am 1. Januar 2023 in Kraft, neue Kämpfer werden jedoch angesichts der Verluste an der Front dringend gebraucht. Nach aktuellen ukrainischen Angaben seien seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar mehr als 50.000 russische Soldaten getötet worden. US-Militärs schätzten die  russischen Verluste Anfang August auf rund 20.000 Tote. 

Die Menschenrechtlerin Olga RomanowaBild: DW

Die Häftlinge sollen vor diesem Hintergrund an vorderster Front eingesetzt werden. "Sie werden als erste in den Kampf geschickt und sind sehr schlecht trainiert", sagt Olga Romanowa.

Perspektivlosigkeit als Motiv

Unter den Angeworbenen sollen sich Schwerverbrecher befinden, aber auch Menschen wie Ruslan, ein Kleinkrimineller Anfang 20. Seine Cousine Swetlana (beide Namen wurden von der Redaktion geändert) erzählte einem DW-Korrespondenten, dass Ruslans Straftat nicht schwerwiegend sei und er seine Strafe in rund einem Jahr abgesessen hätte. Zunächst habe er die Idee, in den Ukrainekrieg zu ziehen, abgelehnt, sagt Swetlana. Doch Anfang Juli habe es eine Anwerbung im Gefängnis gegeben, rund 70 Männer hätten sich gemeldet. Unter ihnen auch Ruslan. Sie habe sich danach bei der Staatsanwaltschaft beschwert - ohne Erfolg. Im August habe ihr Cousin sich telefonisch aus der Ukraine bei ihr gemeldet und gebeten, ihn dringend "rauszuholen". Swetlana will es versuchen.     

Russland Straflager IK-6 in Melechowo: Perspektivlosigkeit ist für viele Häftlinge das Hauptmotiv, sich anwerben zu lassenBild: Natalia Kolesnikova/AFP

Trotzdem sei unter vielen Häftlingen die Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen, groß, sagt Olga Romanowa. Hintergrund sei die Perspektivlosigkeit, so die Menschenrechtlerin: "Für die Häftlinge ist es oft die einzige Möglichkeit, ein neues Leben anzufangen - indem sie anderen das Leben nehmen."