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Letzte unabhängige Wahlbeobachter in Russland geben auf

Alexey Strelnikov
9. Juli 2025

Die Bewegung "Golos" kämpfte für die Rechte der Wähler. Nun muss sie ihre Arbeit beenden. Repressionen und Verhaftungen machen eine Weiterarbeit unmöglich. Gibt es noch Hoffnung auf eine neue Initiative?

Schild mit Logo der Bewegung "Golos" im Büro in Moskau
Büro der Bewegung "Golos" in MoskauBild: Alexandra Krasnova/TASS/dpa/picture alliance

Nach 25 Jahren hat die unabhängige russische Wahlbeobachtungsgruppe "Golos" (Stimme) angekündigt, ihre Arbeit einzustellen. Zu diesem Schritt sei sie wegen des zunehmenden Drucks der russischen Behörden und wachsender Risiken für ihre Mitglieder gezwungen, heißt es in einer Erklärung.

"Golos" bezeichnete sich als "Allrussische gesellschaftliche Bewegung zum Schutz der Wählerrechte". Das Ende der Arbeit stehe im Zusammenhang mit der Verurteilung des Co-Vorsitzenden der Organisation, Grigori Melkonjanz, heißt es in der Erklärung. Ein Moskauer Gericht verurteilte ihn im Mai zu fünf Jahren Haft wegen angeblicher Teilnahme an einer ausländischen NGO, die in Russland als "unerwünscht" eingestuft ist. Es geht um ENEMO - European Network of Election Monitoring Organizations.

"Das Gericht stellt 'Golos' auf eine Stufe mit der als unerwünscht geltenden Organisation ENEMO, die niemals in Russland beobachtet oder irgendwelche Aktivitäten ausgeübt hat", heißt es auf der Webseite von "Golos". Die Organisation befürchtet, Anklagen wie gegen Melkonjanz könnten auch gegen andere Teilnehmer der Bewegung erhoben werden. Oder gegen diejenigen, die bei "Golos" um Rat oder Rechtsbeistand gebeten hätten. Gleichzeitig betont "Golos", dass die Bewegung keine Verbindung zu ENEMO habe. Die Strafverfolgung sei politisch motiviert und solle Wahlbeobachter in Russland zum Schweigen bringen.

Entstehung und Verfolgung von "Golos"

Die im Jahr 2000 gegründete Bewegung zählt zu den ersten unabhängigen Initiativen im postsowjetischen Russland, die sich auf Wahlbeobachtung konzentrierten. Inspiriert von den Umbrüchen der 1990er Jahre übernahm Lilia Schibanowa die Leitung der Organisation, der sich bald weitere Menschenrechtsaktivisten und Juristen anschlossen, darunter Grigori Melkonjanz.

Grigori Melkonjanz vor Gericht in Moskau, August 2023Bild: Alexander Zemlianichenko/AP/picture alliance

Von Anfang an beobachtete "Golos" die zunehmende staatliche Unterstützung der Regierungspartei, insbesondere seit der Gründung der Kreml-Partei "Einiges Russland" im Jahr 2001. Seit 2004 wurden die von den Behörden auferlegten Beschränkungen für unabhängige Wahlbeobachtungen dokumentiert. Die Organisation führte neue digitale Tools zur Erfassung von Verstößen und zur Analyse von Fälschungen ein. Und sie entwickelte Dienste und Plattformen, um die Transparenz von Wahlen zu erhöhen. Dazu gehörte die interaktive Website "Karte der Verstöße", auf der sowohl Beobachter als auch Wähler Nachrichten hinterlassen konnten. "Golos" erlangte 2011 landesweite Bekanntheit im Zuge der Proteste gegen Betrug bei den Wahlen zur Staatsduma sowie im Rahmen der von Oppositionsführer Alexej Nawalny initiierten Kampagne "Votiere gegen Gauner und Diebe".

Lilija Schibanowa war die erste Leiterin von "Golos"Bild: DW/N. Jolkver

Als 2012 in Russland das Gesetz über "ausländische Agenten" beschlossen wurde, geriet auch "Golos" ins Visier der staatlichen Akteure. Schon 2013 wurde die Organisation aufgrund einer Auszeichnung, die sie vom Norwegischen Helsinki-Komitee erhalten sollte, in das Register der "Agenten" eingetragen. Dabei hatte "Golos” die Auszeichnung abgelehnt. Die russischen Behörden führten immer wieder Durchsuchungen durch, beschlagnahmten Computer und setzen in verschiedenen Regionen des Landes Mitarbeiter von "Golos" unter Druck. Weil "Golos"-Mitglieder als "ausländische Agenten" geführt wurden, war ihnen die Teilnahme an Wahlen in jeglicher Form verboten. Obwohl die Organisation keine Finanzmittel aus dem Ausland erhielt, blieb sie auf der Liste der "ausländischen Agenten".

2016 wurde die Organisation auf Antrag des Justizministeriums aufgelöst, doch "Golos" arbeitete als nicht eingetragene Vereinigung einfach weiter. 2021 wurde "Golos" ein weiteres Mal als "ausländischer Agent" eingestuft und auf eine entsprechende Liste nicht registrierter gesellschaftlicher Vereinigungen gesetzt. Aber "Golos" hörte nicht auf, die Arbeit von Wahlbeobachtern zu koordinieren - zum letzten Mal bei der Präsidentenwahl in Russland im Jahr 2024. Doch Sicherheitskräfte verfolgten auch einzelne Vertreter von "Golos", darunter Lilija Schibanowa, Roman Udot, Grigori Melkonjanz und Artjom Waschenkow. Mit Ausnahme von Melkonjanz haben sie alle inzwischen Russland verlassen.

Welches Erbe hinterlässt "Golos"?

Das Ende von "Golos" sei "ein ganz harter Schlag gegen die unabhängige Zivilgesellschaft, gegen die Grundrechte in Russland, gegen freie Wahlen in Russland", betont im DW-Gespräch Stefanie Schiffer, Vorsitzende der Europäischen Plattform für Demokratische Wahlen (EPDE). Sie sieht in der russischen Öffentlichkeit weiterhin die Nachfrage nach einer unabhängigen Wahlbeobachtung. "Das Bedürfnis von Menschen, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, ist tief verwurzelt und völlig berechtigt." Eine Wahlbeobachtung in der bisherigen Form werde es in Russland nun nicht mehr geben.

"Die Schließung von 'Golos' ist eine sehr traurige Nachricht. Es ist eine der wenigen Strukturen, die sich konsequent für die zivile Wahlbeobachtung eingesetzt hat", sagt der DW Politikerin Jekaterina Dunzowa. Sie hatte 2024 für das Präsidentenamt kandidieren wollen, war aber nicht zugelassen worden. Dunzowa findet, "Golos" habe in den 25 Jahren seines Bestehens den Grundstein für eine Kultur der Wahlbeobachtung gelegt und diese etabliert. Sie ist zuversichtlich, dass Erfahrungen und Erkenntnisse an eine künftige Beobachter-Bewegung weitergegeben werden. "Was Wahlen betrifft, ist die Situation in Russland schwierig. Sobald sie sich ändert, wird es neue Initiativen geben", hofft Dunzowa, die sich in Russland aufhält.

"Wir werden wiederkommen"

"Die Organisation der zivilen Kontrolle wird Schaden nehmen, aber die treibende Kraft wird nicht verschwinden", sagt der ehemalige Co-Vorsitzende von "Golos", Roman Udot, gegenüber der DW. Trotz zunehmender Repressionen, Verboten von Kundgebungen und Vertuschungen von Wahlergebnissen hätten die Beobachter weitergemacht. Udot ist zuversichtlich, dass die Erinnerung an "Golos" und seine Standards wach bleibt und es irgendwann wieder Wahlbeobachter geben wird. "Wahlen bleiben und Beobachter bleiben. Es mag seltsam klingen, aber wir werden wiederkommen."

Roman Udot hofft auf bessere Zeiten in RusslandBild: DW/Y. Vishnevets

"Das Regime hat sein Ziel erreicht - 'Golos' ist zerstört", bedauert im DW-Gespräch Iwan Schukschin, ehemaliges Mitglied der Organisation in der Region Krasnodar im Süden Russlands. Er weist darauf hin, dass damit Verbindungen innerhalb der Zivilgesellschaft untergraben und ihre Fragmentierung verstärkt würden. Künftig werde es nur noch Beobachter von pseudo-oppositionellen Parteien geben, denen die Behörden die formelle Teilnahme an Wahlen gestatteten.

"Es wird kein Koordinierungszentrum mehr geben, aber die Arbeit vor Ort wird weitergehen, man wird kommunalen Kandidaten helfen und die Beobachtung fortsetzen, allerdings ohne eine gemeinsame Plattform", so Schukschin. Unter den jetzigen Bedingungen könne seiner Meinung nach keine neue Organisation wie "Golos" entstehen. "Eine landesweite Struktur wird es nicht geben und solange es keinen Regimewechsel gibt, wird es auch nichts dergleichen geben. Aber Einzelinitiativen wird es geben", betont Schukschin, der auch vom Ausland aus weiterhin die Wahlen in Russland analysiert: "Das ist mein Land. Auch wenn es immer schlimmer wird, müssen wir alles im Auge behalten. Damit keine Leere entsteht. Damit man hört und weiß, was passiert. Damit wir die Hoffnung nicht verlieren."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk