Russland: Immer mehr Folter und Morde in der Armee
Veröffentlicht 16. November 2025Zuletzt aktualisiert 16. November 2025
"Sie haben mein Kind annulliert", beklagt Tatjana Bykowa in einer Videobotschaft. Ihr Sohn Andrej sei von Kommandeuren getötet worden. Sie nennt ihre Namen und sagt, dass sie sie hasse. Zuerst hätten sie ihn erpresst und die Hälfte der Entschädigung, die er wegen einer Verwundung erhielt, gefordert. Als er sich weigerte, ihnen das Geld zu geben und sich stattdessen ein Auto kaufte, hätten sie dieses von ihm verlangt. Weil er sich weigerte, das Auto herzugeben, sei er getötet worden.
Bykowa erstattete Anzeige beim Ermittlungskomitee der Russischen Föderation und bei der Staatsanwaltschaft, doch es geschah nichts. Andrej Bykow wurde einfach als vermisst erklärt. "Wie mir gesagt wurde, wurde er zu Tode geprügelt. Er liegt in einem Waldstück bei Galizynowka (ein Dorf in der Oblast Donezk in der Ukraine - Anm. d. Red.)", sagte Bykowa dem unabhängigen russischen Exilmedium "Verstka".
Das Webportal hatte im Oktober 2025 mit einem Projekt begonnen, auf die weit verbreitete Folter und sogenannte "Annullierung" - ein umgangssprachlicher Begriff für die Ermordung von Kameraden in der russischen Armee - aufmerksam zu machen. "Verstka" veröffentlichte auch Namen Dutzender beteiligter Kommandeure. Am nächsten Tag reagierte Aleksandr Paschtschenko, Abgeordneter der regierenden Partei "Einiges Russland" aus der Teilrepublik Chakassien, auf die Kritik eines verärgerten Bürgers mit den Worten: "An der Front würde man für solche Aussagen annulliert." Damit bestätigte er, dass "Annullierungen" tatsächlich praktiziert werden.
Wie kommt es zu Folter und Mord in der Armee?
"Die Ermordung von Kameraden ist nur ein Teil des bitteren Zustands der russischen Armee. Auch Folter ist dort weit verbreitet", sagt Militärexperte Juri Fjodorow der DW. Auf Telegram-Kanälen zum Thema Krieg finden sich Foltervideos. Beispielsweise würden Soldaten, so der Experte, je nach Laune des Kommandanten ein oder zwei Wochen lang in eine Grube geworfen und mit Abfällen gefüttert. Oder es würden Soldaten gezwungen, "einen Baum zu umarmen". Man fessele sie an Baumstämme und lasse sie dort ein oder zwei Tage ohne Essen und Trinken zurück.
Ein Soldat kann erschossen und dann als vermisst oder gefallen erklärt werden. Ferner ist es der Willkür von Offizieren überlassen, ob ein Soldat zu einem Angriff geschickt wird, bei dem das Risiko zu sterben besonders hoch ist.
Die Gründe für eine "Annullierung" können sehr unterschiedlich sein - Ungehorsam, Disziplinarverstöße, Alkoholkonsum, Streitereien mit Offizieren oder die Weigerung, einen Teil des Soldes abzugeben.
"Wenn man Menschen als Verbrauchsmaterial betrachtet und fähig ist, jemanden zu töten, indem man ihn in einen aussichtslosen Kampf schickt, dann wird man auch im Hinterland töten, weil jemand ein Vergehen begangen, kein Geld abgegeben oder man sich zerstritten hat", so der Militärexperte Jan Matwejew im DW-Gespräch.
Die Psychoanalytikerin Alina Putilowskaja spricht von einer "Übertragung" und einem "Ausagieren" aggressiver Affekte: "Die Vorgesetzten, die diese grausamen Gewalttaten begehen, haben ihrerseits Vorgesetzte, von denen sie verhöhnt werden - beispielsweise durch unrealistische Befehle und indem ihren Einheiten lebenswichtige Lieferungen vorenthalten werden. Diese hochrangigen Beamten demonstrieren nach außen hin ein Bild von Überlegenheit, Unbesiegbarkeit und Wohlstand. Dies führt bei den Feldkommandeuren zu sehr schwierigen Gefühlen, die sie an ihren Untergebenen auslassen."
Letztere empfinden Putilowskaja zufolge Angst, weil sie zum Ziel der Aggression ihrer Vorgesetzten werden könnten. Sie würden aber auch Mitleid und Schuldgefühle gegenüber betroffenen Kameraden empfinden, weil sie ihnen nicht beistehen können.
"Annullierung" tritt an die Stelle von Disziplin
Jurij Fjodorow führt die "Annullierungen" in der Armee auf korrupte Offiziere sowie kriminelles und undiszipliniertes Personal zurück. Er sagt, dass das Offizierskorps in Russland seit den 1990er Jahren problematischer wurde, da viele in der Armee blieben, nur weil sie im zivilen Leben keine Aufgabe fanden. Ihren niedrigen Sold besserten sie mittels korrupter Machenschaften auf, beispielsweise indem sie Soldaten zu unbezahlter Arbeit zwangen. Gerade solche Offiziere seien derzeit in der Ukraine im Kriegseinsatz.
Experten sind sich einig, dass sich die russische Armee in diesem Krieg auch dadurch verändert hat, dass Söldner, die für Geld kämpfen, und verurteilte Schwerverbrecher aufgenommen wurden, die eigene Wertvorstellungen mitbringen. Um "diese ganze Bande unter Kontrolle zu halten, musste man brutalste Methoden anwenden", meint Fjodorow. Eines der ersten bekanntesten Beispiele dafür war ein Video, das im November 2022 in den sozialen Netzwerken verbreitet wurde. Es zeigte, wie Wagner-Söldner einen Kameraden mit einem Vorschlaghammer töteten.
Warum werden "Annullierungen" nicht bestraft?
Laut Jan Matwejew ist der Hauptgrund für "Annullierungen" mangelnde Disziplin und ein fehlendes normal strukturiertes Militärsystem. "Das alles fördert Straflosigkeit, die dazu führt, dass Führung unmöglich wird. Niemand in der russischen Armee wurde für schwere Kriegsverbrechen wie beispielsweise die Morde in Butscha und Mariupol bestraft. Das signalisierte sofort, man könne einfach Menschen töten, ohne bestraft zu werden", sagt Matwejew. Er ist überzeugt, dass die "Annullierungen" die Disziplin in der Armee verdrängt haben. Da die Armee nichts dagegen tue, verstärke sich diese Entwicklung weiter.
Beide Experten meinen, dass die russische Armee nicht mehr kampffähig wäre, sollten Folter, Misshandlung, Erpressung, "Annullierungen" und Kriegsverbrechen aufhören. "In Wirklichkeit fußt das gesamte Funktionieren auf Straflosigkeit und darauf, Soldaten als Ressource, als Sklaven zu missbrauchen", betont Fjodorow.
Aus Sicht der Psychoanalytikerin Alina Putilowskaja sind "Annullierungen" eine Methode, Zwang, Kontrolle und Einschüchterung auszuüben. "Die Armeeführung ist nicht daran interessiert, ein langfristiges Verhältnis zu den Menschen aufzubauen, weil sie weiß, dass ihnen bald neue folgen. Zwei Dinge halten eine Gemeinschaft zusammen, selbst im Krieg: emotionale Bindung und Zwang. Geht eines davon verloren, wie in diesem Fall die emotionale Bindung, dann gewinnt der Zwang Oberhand, der in diesem Fall in Grausamkeit umschlägt, die sich bis zum Äußersten steigert."
Matwejew verweist zudem darauf, dass die Russen nicht verstünden, wofür sie kämpfen. "Die ukrainische Armee weiß, auch wenn sie es sehr schwer hat und unter großen Problemen leidet, wofür sie kämpft. Sie verteidigt ihr Land. Den meisten in der russischen Armee ist durchaus klar, dass es sich um ein schweres, abscheuliches Kriegsverbrechen handelt, in dem sich eine Vielzahl kleinerer Verbrechen verbergen, und dass man sich damit abfinden muss", so der Experte.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk