Russland: Korruptionsvorwürfe nach Flutkatastrophe in Orsk
10. April 2024Schneeschmelze im Uralgebirge und anhaltende Regenfälle haben in mehreren Regionen der Russischen Föderation zu Überschwemmungen geführt. Am stärksten betroffen ist die Stadt Orsk am Fluss Ural in der Region Orenburg, wo ein Schutzdamm gebrochen ist. Innerhalb weniger Tage erreichte der Wasserstand zwei Meter, Einfamilienhäuser und die ersten Stockwerke von Wohnblöcken wurden überflutet. Mehr als 6400 Menschen wurden evakuiert, mindestens zwei kamen ums Leben. Insgesamt stehen in der Region über 10.000 Gebäude unter Wasser.
Was die Menschen über den Dammbruch sagen
Jekaterina aus Orsk berichtet, dass ihre Eltern in der Nähe des Dammes leben. Am Morgen des 5. April hätten sie undichte Stellen bemerkt, am Abend habe sich dort bereits ein Loch gebildet. Das Haus stand innerhalb von drei Stunden unter Wasser.
Jekaterina konnte mit ihrer Familie vorübergehend bei Freunden in der Nähe von Orsk unterkommen. Sie hofft, dass sie einen Teil ihres Hab und Guts retten kann, wenn das Wasser zurückgeht. Reparaturen können aber womöglich erst beginnen, wenn die Behörden das Ausmaß der Schäden ermittelt haben. "Es gibt Zehntausende solcher Häuser. Wer weiß, wann wir dran sind. Aber wo sollen wir wohnen? Außerdem werden die Hilfsgelder kaum die Kosten für den Wiederaufbau decken", klagt sie.
Auch das Haus von Jelena Matwejewskaja in Orsk wurde überschwemmt. "Der erste Stock stand unter Wasser, doch ein Teil des Hausrats konnte in den zweiten gerettet werden", erzählt sie. Inzwischen sind ihr Mann und ihr Sohn zum Haus zurückgekehrt, um es zu bewachen, da Plünderer in der Gegend gesichtet wurden.
Spontane Kundgebung in Orsk
Matwejewskaja gehört zu einer Initiativgruppe, die mit dem Gouverneur der Region Orenburg, Denis Pasler, sprechen konnte. "Alle Handys weg!" - so habe er das Treffen mit den Flutopfern begonnen. Das Gespräch fand am 8. April im Gebäude der Stadtverwaltung statt, vor dem gleichzeitig eine aufgebrachte Menge von mehreren hundert Bürgern stand. Einige riefen "Schande!" und forderten den Rücktritt der Stadtoberen, andere nahmen ein Video auf, auf dem sie einstimmig "Putin hilf!" riefen.
Die spontane Kundgebung wurde sofort von der Polizei umstellt. Die Versammlung sei illegal, sagten die Beamten. Die aufgebrachte Menge fuhr jedoch fort, sich darüber zu beschweren, dass die städtischen Dienste nicht auf die Überschwemmung vorbereitet gewesen seien und dass schon Tage vor dem Bruch Lecks am Damm festgestellt worden seien.
Laut Matwejewskaja äußerte eine Teilnehmerin des Treffens mit dem Gouverneur den Verdacht, dass korrupte Machenschaften in der lokalen Führung ein Grund für die Flutkatastrophe sein könnten "Eine junge Frau erzählte Denis Pasler, dass ihr Großvater am Bau des Damms beteiligt gewesen sei und er habe die Hälfte des Schotters und des Baumaterials zu einer privaten Baustelle des Bürgermeisters bringen müssen", so Matwejewskaja. Der Gouverneur habe jedoch behauptet, die Ursache der Katastrophe sei ein "ungewöhnliches Hochwasser" gewesen. Die Behörden von Orsk versprechen derweil den Menschen Hilfe: bis zu 100.000 Rubel (umgerechnet rund 1.000 Euro) für diejenigen, deren Häuser komplett überflutet wurden, in anderen Fällen zwischen 10.000 und 50.000 Rubel (rund 100 Euro und etwa 500 Euro).
Behörden machen den Menschen Vorwürfe
Der Kreml reagierte eher zurückhaltend auf die Ereignisse in Orsk. Dmitrij Peskow, Sprecher des russischen Staatschefs, sagte, Wladimir Putin habe nicht vor, die betroffenen Regionen zu besuchen, aber er befasse sich ständig mit diesem Thema. Mehrere Minister sind inzwischen in Putins Auftrag in die Region geflogen. Eine Äußerung des Ministers für Katastrophenschutz, Aleksandr Kurenkow, empörte die Menschen aber noch mehr. Er hatte gesagt, schon eine Woche vor der Flut sei eine Evakuierung angekündigt worden. "Aber das wurde als Scherz abgetan", so Kurenkow. Eine Woche lang habe man versucht, die Anwohner zu überzeugen, sich evakuieren zu lassen.
Die Stadtverwaltung hingegen hatte den Anwohnern noch am Vorabend des Bruchs versichert, der Damm werde halten. So schrieb Bürgermeister Wassilij Kosupiza am 3. April in seinem Telegram-Kanal, er habe den Damm inspiziert, mit den Anwohnern gesprochen und sie würden nicht befürchten, überschwemmt zu werden. Doch die russischen föderalen Ermittlungsbehörden haben inzwischen ein Verfahren wegen Fahrlässigkeit und Verstoßes gegen Bauvorschriften eingeleitet. Demnach soll der Bruch des Dammes auf überfällige Instandhaltungsmaßnahmen zurückzuführen sein.
Verantwortung für die Beseitigung der Folgen der Katastrophe wollen die föderalen Behörden aber nicht übernehmen, meint der russische Politikwissenschaftler Abbas Galjamow. Im autoritären Russland, wo jede Proteststimmung in der Gesellschaft unterdrückt wird, verlieren die russischen Behörden Galjamow zufolge zunehmend "menschliche Qualitäten". "In den Chefetagen haben sich Menschen verschanzt, die von der Logik einer vertikalen Staatsmacht geprägt sind und vergessen haben, dass auch die Bevölkerung ein Subjekt ist", so der Experte. Er glaubt nicht, dass die Behörden die Hilfe für die Flutopfer erhöhen werden. Vielmehr würden sie der Finanzierung vonRusslands Krieg gegen die Ukraineden Vorrang geben. Derweil schätzen die lokalen Behörden die Hochwasserschäden in der Region Orenburg auf mehr als 20 Milliarden Rubel (umgerechnet rund 200 Millionen Euro).
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk