Russland ein Jahr nach Nawalnys Tod: zerstritten und mutlos
16. Februar 2025
Als knapp zweitausend Russinnen und Russen Mitte November vergangenen Jahres bei einer Antikriegsdemo durch Berlin marschieren, mag sich die eine oder der andere von ihnen an die viel größeren Proteste in ihrer Heimat Russland vor vier Jahren erinnert haben. Damals gingen Hunderttausende auf die Straße, um gegen die Festnahme von Oppositionspolitiker Alexej Nawalny zu protestieren. Polizeigewalt und Festnahmen waren die Folge, Verschärfung der Versammlungsgesetze, Einschränkung der Meinungsfreiheit. Aber die Menschen trauten sich damals noch gegen den Kreml aufzubegehren.
Drei Jahre später am 16. Februar 2024 stirbt Alexej Nawalny in einem russischen Straflager. Seine Anhänger gehen von einem Mord im Auftrag des Kremls aus. Seitdem sind Massenproteste in Russland - Nawalnys größte Stärke - undenkbar.
Der russische Präsident Wladimir Putin und sein engster Kreis, die Nawalny bekämpften, herrschen immer noch. Und Nawalnys engster Kreis? Wie viel Gewicht hat sein Erbe - die vom Politiker gegründete Antikorruptionsstiftung FBK - heute? Zu Nawalnys Lebzeiten sorgte der FBK mit seinen Enthüllungen über Korruption der höchsten russischen Beamten bei einem Millionenpublikum für Empörung. Und heute?
Für den unabhängigen russischen Politikwissenschaftler Alexander Kynew ist klar: Nawalnys Stiftung habe nach seinem Tod mittlerweile jegliche Autorität "unwiderruflich verloren". Im Gespräch mit der DW erinnert Kynew daran, dass der FBK einst ein Aushängeschild der Opposition war, eine Struktur, die das politische Leben in Russland beeinflusste:
"Der FBK war immer eine Nachricht wert, er war selbst ein Ereignis." Heute sei das Geschichte - hauptsächlich aus zwei Gründen: der erste sei die Verhaftung Nawalnys gewesen, "denn von dem Moment an, als der wichtigste Oppositionspolitiker isoliert war, verengte sich das Feld des politischen Handelns". Das Interesse des Publikums an den Figuren der "zweiten oder dritten Reihe", wie Kynew Nawalnys engsten Kreis bezeichnet, sei nicht mit dem Interesse an Nawalny vergleichbar.
Politische Einschnitte: Nawalnys Verhaftung und Ukraine-Krieg
Tatsächlich drehten sich nach Nawalnys Verhaftung die Nachrichten um den Kampf für seine Person, was das Interesse der breiten Öffentlichkeit Kynews Meinung nach eingeschränkt habe. "Denn es war kein Kampf für die Bürger mehr, für die Interessen Russlands, sondern ein Kampf für ihn selbst", erklärt der Politikwissenschaftler.
Der zweite Grund war Russlands Krieg gegen die Ukraine, den Kynew, der in Moskau lebt, im DW-Gespräch eine "Spezialoperation" nennt. In Russland gilt nämlich immer noch ein Gesetz, das den Gebrauch des Begriffs "Krieg" im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg unter Strafe stellt.
Diese "Spezialoperation" habe die politische Agenda "drastisch verändert". "Grob gesagt, wenn es bewaffnete Auseinandersetzungen gibt, das Land unter Sanktionen steht und eine Notsituation herrscht, wird das Thema der Korruptionsermittlungen gegen ein paar große und kleine Beamte zu einer absolut zweitrangigen Angelegenheit, resümiert der Politikwissenschaftler.
Aus diesen beiden Gründen wäre Nawalnys FBK "an den äußersten Rand des öffentlichen Interesses gedrängt worden". Die Stiftung hätte nichts anderes mehr zu bieten gehabt, kritisiert Kynew. Dabei hätten Nawalnys Leute nach der Flucht vieler politischer Aktivisten aus Russland in den letzten drei Jahren einen Neustart wagen und die Stimme zumindest eines Teils der Gesellschaft werden können.
Opposition ohne Nawalny weitgehend zerschlagen
Stattdessen mussten sich Nawalnys Leute - alle bekannt als Kremlkritiker - gegen den Vorwurf anderer bekannter Kremlkritiker verteidigen: Sie, die sie jahrelang dubiose Machenschaften in ihren investigativen Recherchen entlarvten, hätten in ihren eigenen Reihen dubiose Machenschaften zugelassen. In einigen russischen Exil- und sozialen Medien begann eine regelrechte Schlammschlacht.
Das habe nicht nur die Nawalny-Stiftung betroffen, bemerkt der ehemalige Duma-Abgeordnete Dmitri Gudkow gegenüber der DW. "Leider war es der Opposition nicht gelungen, sich zusammenzuschließen und auf etwas zu einigen", kritisiert der Russe.
Auch Gudkow lebt inzwischen im Exil. In Russland wurde er wegen der so genannten Diskreditierung der russischen Armee zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Gudkow hatte zuvor Russlands Vorgehen in der Ukraine öffentlich kritisiert.
Aber es sei eben schwierig sich auf irgendwelche Maßnahmen zu einigen, "weil aus dem Ausland nichts wirklich möglich ist", bedauert Gudkow. "Alles, was wir tun können, ist die Medien zu unterstützen, um einem Teil der Öffentlichkeit unseren Standpunkt zu vermitteln".
Auch verstehe er nicht, welche Art von politischer Aktion heute in Russland überhaupt zu irgendeiner Veränderung führen könnte, denn "wer jetzt auf die Straße geht, wird mit hohen Haftstrafen belegt".
Hat Nawalnys Tod die Menschen entmutigt?
Maxim Reznik, ein anderer ehemaliger russischer Politiker, stimmt Gudkow zu. Einst ein Abgeordneter des Sankt Petersburger Parlaments von der Oppositionspartei Jabloko musste auch Reznik inzwischen wegen seiner Kremlkritik ins Ausland fliehen. Reznik kritisiert im DW-Interview die Unfähigkeit der Opposition, sich zu einigen: "Wir sind alle kein moralischer Maßstab und so weit von Nawalny entfernt wie vom Mond. Wir sollten nicht versuchen, seinen Platz zu besetzen, der nicht besetzt werden kann. Wir sollten aber versuchen, sein Vermächtnis zu begreifen, das aus meiner Sicht darin besteht, gemeinsam zu kämpfen."
Vielleicht habe Nawalnys Tod die Menschen abgeschreckt, die sich direkt in der Opposition und im Widerstand einbringen wollten, vermutet Reznik: "Ja, ich denke, dass Putin unter anderem dieses Ziel verfolgte, die Gesellschaft noch einmal zu erschüttern und der Mord an Nawalny war ein Versuch, Hoffnung zu töten. Vielleicht hat dieses abscheuliche Verbrechen bei einer bestimmten Anzahl von Menschen sein Ziel erreicht. Viele wurden mutlos, desillusioniert, verloren den Glauben und erlebten ungeheuren Schmerz", analysiert er. Aber es gebe auch die anderen, die in der Lage seien, "diesen Schmerz zu verarbeiten, die bis zum Ende gehen und alles tun, um sicherzustellen, dass Alexejs Opfer nicht umsonst war."
Deshalb werde es in Russland Rezniks Meinung nach auch weiterhin Freiheitskämpfer geben: "Ich bin fest davon überzeugt, dass Nawalny diesen Kampf früher oder später gewinnen wird", stellt der gebürtige Sankt Petersburger optimistisch fest.
Selbst Verantwortung übernehmen
Nach Ansicht des Ex-Politikers Gudkow wird Nawalnys Name im Laufe der Zeit immer mehr Symbolcharakter haben und immer mehr Menschen inspirieren. Gudkow weist aber darauf hin, dass Nawalnys "Ermordung sich im zweiten Kriegsjahr ereignete, als das Regime in Russland bereits nicht mehr zu bremsen war". Sein Tod sei deswegen für viele weniger schockierend gewesen, vielmehr habe er "den Abscheu gegenüber der Regierung" verstärkt. Gleichzeitig sei er eine Lehre für die Zukunft: "In Russland ist es immer üblich, sich vor der Verantwortung zu drücken. Ein Politiker taucht auf und alle denken, er werde alles für sie tun. Er gibt ihnen Hoffnung. Diese Hoffnung gab uns Nawalny, der im Gefängnis keine Angst zeigte. Das Symbol der Angstlosigkeit wurde aber getötet. Wer soll jetzt Mut haben, etwas für uns alle zu tun?"
Viele in Russland seien deswegen inzwischen verzweifelt. Aber "vielleicht ist das auch ein Element der bürgerlichen Reife, wenn die Menschen erkennen, dass es so nicht funktioniert, dass keiner für sie irgendetwas tun wird", schlussfolgert Gudkow. Er wolle zwar niemanden zu etwas aufrufen, was gefährlich sein könnte, hoffe aber, dass Menschen in Russland begreifen, dass sie politische Verantwortung selbst übernehmen sollen. Und zwar alle.
In dieser Hinsicht sieht Politikwissenschaftler Kynew Nawalny als einen Politiker, der möglichst viele Menschen hinter sich vereinte: "Er betrachtete alle Bürger als Zielpublikum. Er löste sich bewusst von alten Strukturen, arbeitete bewusst nicht mit alten politischen Netzwerken, sondern schuf neue und suchte neue Unterstützer." Dieser Prozess sei seit einem Jahr am Ende. Es gebe bisher niemanden, der ihn wieder aufnehmen könnte.