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PolitikEuropa

Russland: Razzia bei Investigativ-Journalist

Juri Rescheto | Alexander Prokopenko
29. Juli 2021

In Russland hat ein Gericht den Chefredakteur des Investigativportals "The Insider" wegen einer Verleumdungsklage vorgeladen. Kremlkritiker sehen darin einen Angriff auf die Pressefreiheit.

Moskau | Roman Dobrokhotov | Chefredakteur von The Insider vor einer Polizei-Station
Seine Wohnung wurde durchsucht, er selbst auf Polizeiwache vernommen: der russische Journalist Roman DobrochotowBild: Anton Novoderezhkin/ITAR-TASS/imago images

Roman Dobrochotow leitet das wohl bekannteste russische Investigativportal: "The Insider". Zusammen mit dem internationalen Recherchenetzwerk Bellingcat hat er die brisantesten Fälle der vergangenen Jahre untersucht: die Vergiftung des russischen Spions Sergej Skripal in Großbritannien, den Abschuss der malaysischen Boeing MH17 über der Ukraine, den so genannten Tiergarten-Mord und die Vergiftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny

Razzia in den frühen Morgenstunden

Am frühen Morgen des 28. Juli klopfte die Polizei bei Dobrochotow an. Die Polizisten durchsuchten seine Wohnung im Stadtteil Jasenewo im Süden von Moskau sowie die benachbarte Wohnung seiner Eltern. Nach Angaben der Rechtschutz-NGO "Otkrytki" dauerte die Durchsuchung sieben Stunden. Dobrochotows Handy, sein I-Pad, sein Laptop und sein Pass seien dabei konfisziert worden.

Nach der Hausdurchsuchung wurde der Journalist in einem Polizeirevier vernommen und später wieder freigelassen. Seinen Pass erhielt er vorerst nicht zurück. Auch die Nummer seines Handys funktioniere nicht mehr, teilte Dobrochotow später mit. Weitere Einzelheiten wollte er nicht an die Presse geben. Auf die Frage eines Reporters nach seinem Wohlbefinden antwortete Dobrochotow knapp: "Geht so."

Dobrochotow droht Verleumdungsklage

Nun droht Dobrochotow eine Anklage wegen Verleumdung. Es geht um einen Tweet auf Dobrochtows persönlichem Twitter-Account. Darin wirft er dem niederländischen Blogger Max van der Werff vor, unter Anleitung des russischen Geheimdienstes GRU irreführende Informationen über den Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 über dem Donbass im Juli 2014 verbreitet zu haben.

Van der Werff sieht darin eine Verleumdung und wandte sich an die russische Justiz. Vorerst ist Dobrochotow in dem Fall als Zeuge geladen. Doch der Weg von dort auf die Anklagebank gilt in Russland als nicht weit.

Russland: Studenten wollen Pressefreiheit

02:58

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Böse Vorahnungen werden wahr

Der bekannte bulgarische Bellingcat-Journalist Christo Grozev arbeitet eng mit Dobrochotows Portal zusammen. In der Wohnungsdurchsuchung seines Moskauer Kollegen sieht er den Versuch, unabhängige Journalisten in Russland vor der Parlamentswahl im September unter Druck zu setzen.

"Ende Mai wurden wir von einem Insider aus den Rechtsschutzorganen gewarnt, dass in den nächsten Monaten eine ganze Reihe von Verhaftungen starten werde. Eine Kampagne vor den Wahlen zur Schließung freier Medien, vor allem der unabhängigen Internetportale, steht bevor. Leider beobachten wir, dass diese Warnung fast vollständig in die Tat umgesetzt wurde", klagt Grozev in einem Interview mit der Deutschen Welle.

Eingestuft als "ausländischer Agent"

Seit dem 23. Juli steht "The Insider" auf der Liste der sogenannten ausländischen Agenten in Russland. Das Portal war zuvor vom russischen Justizministerium geprüft worden.

Dobrochotow im Interview mit der DW am Tag vor der Hausdurchsuchung: "Arbeiten in Russland nur noch anonym möglich"Bild: Sergej Dik/DW

Am Tag vor der Hausdurchsuchung klagte Chefredakteur Dobrochotow gegenüber der DW, dass russische Journalisten nur zwei Möglichkeiten hätten: entweder anonym zu arbeiten oder das Land zu verlassen: "Das wird die gleiche Nummer sein wie in Zentralasien", mutmaßte der Kremlkritiker unter Verweis auf Turkmenistan und Usbekistan. "Wir sind an dem Punkt angekommen, an dem das Arbeiten in Russland nur anonym möglich ist."

Dobrochotow: Agentenvermerk wäre Betrug

Dabei versprach Dobrochotow nach der Einstufung seines Mediums als ausländischer Agent, dass "The Insider" weiter und sogar "doppelt so stark" arbeiten werde als bisher, und kündigte an, er werde seine Veröffentlichungen nicht mit dem Vermerk "Produktion eines Massenmediums, das die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt" versehen, den die russische Justiz verlangt.

Bellingcat-Journalist Christo Grozev: "genug Stoff" für weitere VeröffentlichungenBild: Getty Images/J. Taylor

"Es wäre nämlich ein Betrug an unseren Lesern zu schreiben, dass wir irgendwelche ausländischen Agenten seien", betonte Dobrochotow. "Wir sind viel weniger ausländische Agenten als unsere Beamten, die irgendwelche Yachten in Europa besitzen. Dafür, dass wir all das entlarven, werden wir gezwungen, diesen Vermerk zu schreiben." Zudem sei sein Portal in Lettland angemeldet und obliege deshalb den lettischen und nicht den russischen Gesetzen, so Dobrochotow.

Enthüllungen auch ohne Dobrochotow

Auch Christo Grozev von Bellingcat glaubt, dass Dobrochotow trotz des Drucks der Behörden weiter aktiv sein wird. Seiner Meinung nach kann den russischen Journalisten nichts abschrecken. Im Gespräch mit der DW kündigte Grozev weitere Untersuchungen und Enthüllungen an: "Selbst wenn er festgenommen wird und keine Verbindung mehr zu uns hat, haben wir immer noch genug Stoff, um die nächste Untersuchung ohne ihn zu veröffentlichen."