Wie Russlands Luftwaffe der Ukraine ins Netz ging
2. Juni 2025
Der 1194. Tag des russischen Angriffskrieges dürfte in Moskau wie in Kyjiw in besonderer Erinnerung bleiben: Am Sonntag, dem 1. Juni 2025 hat der ukrainische Geheimdienst nach eineinhalb Jahren Planung die "Operation Spinnennetz" in die Tat umgesetzt. Die Ukraine jubelt über mehr als 40 getroffene russische Militärflugzeuge - und richtet zugleich ihre Aufmerksamkeit auf die zweite Runde direkter Verhandlungen in Istanbul.
Was ist passiert - und wie ist der ukrainische Geheimdienst SBU vorgegangen?
Der ukrainische Geheimdienst SBU teilte am Sonntag selbst mit, Attacken auf russische Militärflugplätze in verschiedenen Regionen ausgeführt zu haben. Dabei kamen offenbar Drohnen zum Einsatz, die zuvor in der Umgebung der Flugplätze deponiert worden waren. Berichten zufolge waren sie in Containern auf Lkw versteckt, deren Dächer durch einen ferngesteuerten Mechanismus geöffnet wurden. Aus dem Inneren hoben anschließend die Drohnen ab.
Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von 117 Drohnen mit einer "korrespondierenden Zahl" an Drohnenpiloten. 34 Prozent der strategischen Bomber, die Marschflugkörper tragen können, seien getroffen worden. Der SBU bezifferte die Schäden auf sieben Milliarden US-Dollar und veröffentlichte Videos, die einige der Angriffe zeigen sollen.
Kateryna Bondar vom Washingtoner Center for Strategic and International Studies (CSIS) sagte der DW: "Wir sehen, dass diese Drohnen wahrscheinlich mit einer Form von Künstlicher Intelligenz und autonomer Navigation ausgerüstet waren. Das ist vielleicht das erste Mal, dass wir KI in einem solchen Spezialeinsatz aus großer Distanz sehen."
Außerdem habe der Einsatz große Lücken in der russischen Luftverteidigung offenbart: "Wir sehen in einer Reihe geparkte Flugzeuge, die absolut ungeschützt sind, es gibt weder elektronischen Schutz noch Drohnenabwehrsysteme", sagt Bondar. "Nur dadurch konnten einfache FPV-Drohnen derart wichtige strategische Ziele angreifen."
Welche Verluste hat die russische Luftwaffe erlitten?
Die Ukraine spricht von 41 getroffenen Flugzeugen, darunter Langstreckenbomber der Typen Tu-95 und Tu-22 sowie mindestens eines der raren Aufklärungsflugzeuge A-50. 13 Maschinen seien zerstört und andere beschädigt worden, erklärte Andrij Kowalenko, Vertreter des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats. Das russische Verteidigungsministerium bestätigte, dass in den Regionen Murmansk und Irkutsk Flugzeuge durch Drohnenangriffe in Brand geraten seien.
Der Verlust von Tu-95-Bombern, die auch Atomwaffen tragen können, bedeutet einen "erheblichen Fähigkeitsverlust", glaubt Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München. Dennoch sei Russland weiterhin in der Lage, ukrainische zivile Einrichtungen zu bombardieren, so Masala im DW-Interview.
Bei der Tu-95 kommt noch ein wesentlicher Faktor hinzu: Das Modell wird überhaupt nicht mehr produziert. Die mutmaßlichen Milliardenschäden auf den Rollfeldern seien also gar nicht das Entscheidende, meint CSIS-Expertin Bondar: "Um die Verluste zu kompensieren, wird Russland seine Flugzeugindustrie wieder aufbauen müssen. Es wird also Zeit und Ressourcen benötigen, um die Fähigkeiten wiederherzustellen."
Auch der unabhängige russische Militärexperte Nikolai Mitrochin sieht Russlands Luftfahrtindustrie derzeit nicht in der Lage, die verlorenen Flugzeuge zu ersetzen. Zwar gebe es noch genügend funktionstüchtige Bomber, um damit den Massenbeschuss der Ukraine aufrechtzuerhalten. "Aber mit jedem solchen Schlag - und solche Schläge werden immer weiter durchgeführt - wird die Zahl dieser Flugzeuge verringert. Und es besteht die Gefahr, dass Russland irgendwann ohne solche Flugzeuge dasteht", sagt Mitrochin im DW-Interview.
War der 1. Juni 2025 "Russlands Pearl Harbor"?
Marina Miron vom King's College in London ist der Ansicht, es gehe weniger um die materiellen Verluste als vielmehr den psychologischen Effekt: "Die Ukraine sagt damit 'Wir können euch überall treffen'", sagt Miron im DW-Interview. "Es ist sehr wichtig, dass sowohl die russische Bevölkerung als auch die Führung diese Nachricht bekommen. Dieses Symbol viel zentraler als die tatsächlichen Schäden."
Im Netz wird "Operation Spinnennetz" sogar mit dem japanischen Angriff auf die US-Pazifikflotte im Dezember 1941 verglichen, die im hawaiianischen Pearl Harbor stationiert war. "Sie ist mit Pearl Harbor insofern zu vergleichen, als dass sie so ein Überraschungsmoment kreiert", sagt der Politikwissenschaftler Masala. "Es ist aber nicht Pearl Harbor in dem Sinne, das es eine strategische Wende in dem Krieg herbeiführt. Nach Pearl Harbor sind ja die Amerikaner in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Diese Wendung kann ja nicht herbeigeführt werden. Es ist ein Signal gegenüber Russland, aber auch dem Westen, wozu man in der Lage ist", so Masala. "Jetzt zeigt die Ukraine wieder, dass sie zu Dinge in der Lage ist, die eigentlich keiner von ihr mehr erwartet hat."
Was bedeutet die Aktion für die Friedensgespräche in Istanbul?
Der Zeitpunkt, um dieses Momentum zu erzeugen, dürfte bewusst gewählt worden sein - nur wenige Stunden vor der zweiten direkten Gesprächsrunde beider Kriegsparteien in der türkischen Metropole Istanbul. Marina Miron mutmaßt, dass die Ukraine entweder einen russischen Abbruch der Gespräche provozieren oder die eigene Verhandlungsposition stärken wollte.
Grundsätzlich liegen die Positionen, mit denen beide Delegationen nach Istanbul gereist sind, weit auseinander: Die Ukraine fordert eine Waffenruhe, während der die Bedingungen für ein Kriegsende ausgehandelt werden könnten. Russland sprach zuletzt lediglich von einem Memorandum, das es in Istanbul vorlegen wolle, und stellt weitreichende Vorbedingungen für eine Feuerpause. Staatschef Wladimir Putin hatte im Frühjahr zwei kurzzeitige Feuerpausen angeordnet, ohne jedoch auf den ukrainischen Vorschlag einer 30-tägigen Waffenruhe einzugehen.