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"Russland will keine Union mit Weißrussland aufbauen"

9. September 2002

- Lukaschenka schiebt die Schwierigkeiten russischen Oligarchen in die Schuhe

Moskau, 9.9.2002, WREMJA NOWOSTEJ, russ., Natalja Wiktorowa aus Minsk

Der weißrussische Präsident Aleksandr Lukaschenka ist zur Schlussfolgerung gekommen, dass "Russland keine Union mit Weißrussland aufbauen will". Am letzten Samstag (7.9.) erklärte er in Polozk, dass nach den Schuldigen der jetzigen Schwierigkeiten "unter den Mitgliedern der russischen Regierung sowie unter reichen Leuten gesucht werden muss, die Weißrussland kriminalisieren und es uns wegnehmen wollen". Lukaschenka unterstrich, er habe nie auf die Integrationspolitik verzichtet und werde weiterhin daran festhalten: "Will die Führung Russlands den Unionsvertrag kündigen, bitte schön – jedoch einseitig. Ohne uns. Weißrussland wird sich daran nicht beteiligen." Dabei erinnerte er erneut daran, dass der Gedanke von Putin, Weißrussland in den Bestand Russlands aufzunehmen, "von vorne herein nicht annehmbar" sei.

Das war die Antwort von Lukaschenka auf das Schreiben von Wladimir Putin, das ihm letzte Woche übermittelt wurde. Der Kreml war gezwungen zum Schriftwechsel überzugehen, nachdem keine klare Antwort aus Minsk auf die mündlichen Vorschläge folgte, die bereits am 14. August beim Treffen der beiden Präsidenten unterbreitet wurden. Dieser Tage überbrachte der stellvertretende Chef des russischen Außenministeriums, Walerij Loschtschinin, Lukaschenka ein Schreiben, in dem Minsk zur Wahl drei Varianten der Integration vorgeschlagen werden – Aufnahme in den Bestand der Russischen Föderation, Vereinigung nach dem Prinzip der Europäischen Union oder die Fortsetzung der Arbeit am Unionsvertrag. Es wird davon ausgegangen, dass Lukaschenka neben den mündlichen Erklärungen auch schriftlich auf die Vorschläge reagieren, seinen Standpunkt dokumentarisch bekräftigen muss.

Was Putin angeht, so gefällt ihm die erste Variante am meisten. Das EU-Modell betrachtet er mit weniger Enthusiasmus. Wie jedoch aus den Erklärungen von Lukaschenka zu vernehmen ist, gefällt ihm weder die erste noch die zweite Variante. Der KPRF-Vorsitzende Gennadij Sjuganow unterstützte Lukaschenka unverzüglich: "Unsere Union muss echt und gleichberechtigt sein und nicht oligarchisch und kriminell." Der Kommunistenführer bezeichnete die wichtigste Variante der von Putin vorgeschlagenen Integration – die Aufnahme Weißrusslands in den Bestand Russlands – als "inhaltlich unklug". Ihm zufolge "hat das jetzige Modell der Union - wenn Russland ihr nichts in den Weg legen wird – viel mehr Perspektiven als sogar die Europäische Union und ist auch viel progressiver".

In Polozk erklärte Lukaschenka, er sei bereit, schon am 1. Januar nächsten Jahres zur einheitlichen Währung überzugehen, wenn das "auf gleichberechtigter Basis" erfolgen werde. Dabei sollte die einheitliche Währung etappenweise ab 2005 eingeführt werden. Aber auch diese Initiative wird bei der russischen Seite kaum Freude hervorrufen – als einheitliches Emissionszentrum schlägt Minsk ein System aus der Zentralbank Russlands, der Nationalbank Weißrusslands und einem gemeinsamen Bankenrat vor. Es geht nicht mehr darum, die Vollmachten bei der Ausgabe von Wertpapieren völlig auf Russland zu übertragen, was erneut bekräftigt, dass Minsk nicht vorhat, sich Russland unter den Bedingungen von Putin anzuschließen.

Unterdessen will der Vorsitzende der weißrussischen Gewerkschaft der Agrarier, Aleksandr Jaroschuk (der im letzten Jahr um das Präsidentenamt kämpfte), ein Referendum über die Initiative von Putin vorbereiten: "Es kann doch nicht Sinn der Sache sein, dass bei uns eine Person Erklärungen im Namen des ganzen Volkes abgibt. Erst behauptet er, dass alle Weißrussen für die Integration plädieren, dann erklärt er, dass maximal drei Prozent für die Vereinigung stimmen werden. Man muss abstimmen lassen, um zu erfahren, was die Leute tatsächlich denken." Der Parlamentsabgeordnete Wladimir Nowosjad erinnerte jedoch daran, dass für solch ein Referendum die Verfassung geändert werden müsste, was ohne Lukaschenka jedoch nicht durchzusetzen sei. Dieser werde sich jedoch unter den heutigen Bedingungen nicht darauf einlassen, was wiederum bedeute, dass es zu keinem Referendum kommen werde.

Dass sich die Akzente geändert haben, ist mit bloßem Auge zu sehen. Das offizielle weißrussische Fernsehen, das viele Jahre lang von den Vorteilen der Integration sprach, jagt jetzt seinen Zuschauern Angst durch Berichte über die Tätigkeit russischer Oligarchen ein. In der Zeitung "Sowetskaja Belorussija" (Organ der Präsidentenadministration) wurde das skandalöse Telefongespräch zwischen Boris Nemzow und Anatolij Lebedko (einer der Führer der weißrussischen Opposition – MD) veröffentlicht. Wo Rauch ist, da ist auch Feuer – unter den weißrussischen Politikern wird gemunkelt, dass auf den Tisch von Wladimir Putin eine Liste von fünf möglichen Nachfolgern von Lukaschenka gelegt wurde, auf der an der Stelle der Führer der oppositionellen Parteien Leute stehen, die gute Beziehungen im Business und zu den Militärs haben, sowie entlassene hohe Beamte.

Der russische Einfluss in Weißrussland könnte, ungeachtet der Tatsache, dass sich Minsk der politischen Initiative Moskaus widersetzt, dadurch zunehmen, dass das russische Kapital die Kontrolle über strategische weißrussische Unternehmen übernimmt. Viele Jahre dauerten die Verhandlungen über die Teilnahme von "Gasprom" an der Privatisierung des Konzerns "Beltransgas" an. Nicht von ungefähr hat die weißrussische Regierung erst jetzt erlaubt, den Konzern völlig zu privatisieren. (...) Es wird erwartet, dass auch die Privatisierung im Erdölverarbeitungskomplex demnächst über den toten Punkt hinweggebracht wird. (lr)