Deutschlands Zeitenwende: Abkehr von Russland
6. Mai 2022Anruf bei Andrej Kurkow. Der Bestsellerautor aus Kiew hat stets eine gute Antenne, wenn es um den osteuropäischen Blick auf Deutschland geht. In seinen Gesprächen der vergangenen drei Monate habe es „ganz viele anti-deutsche Emotionen" gegeben, sagt der Präsident des Schriftstellerverbandes PEN in der Ukraine im Gespräch mit der DW. Kurkow lebt zeitweise in London und veröffentlicht unter anderem im Economist und dem New Yorker. Er gilt in den USA als der wichtigste Erklärer seines Landes.
"Ganz offen wird Angela Merkel als Schuldige benannt." Die frühere deutsche Bundeskanzlerin von der konservativen CDU habe begonnen, noch "mehr Kommerz mit Putin" zu betreiben, als der russische Präsident 2014 bereits die ukrainische Schwarzmeerhalbinsel Krim völkerrechtlich illegal annektiert habe. Und "nach dem Beginn des Krieges im Donbas" habe Merkel den Baubeginn der Ostseepipeline Nordstream 2 weiter betrieben, sagt Kurkow, der in seinem Buch "Ukrainisches Tagebuch" 2014 die Ereignisse der pro-europäischen Maidan-Revolution filigran nachgezeichnet hat.
"Wir haben das Recht mehr zu fordern"
Russlands Angriff auf sein Heimatland hat der in einer russischsprachigen Familie groß gewordene Intellektuelle Kurkow noch in Kiew erlebt. Mittlerweile arbeitet er von Kopenhagen aus. Seine Frau, die Kinder sind verstreut in der Ukraine. Sein Sohn leiste humanitäre Hilfe in Uschgorod, der Stadt der ungarischen Minderheit in der Ukraine an der Grenze zu Ungarn, wohin Menschen aus umkämpften Gebieten geflohen sind.
Es ist Krieg in Europa und die Ukraine steckt seit dem Überfall durch Russland in einem Überlebenskampf. Kurz nach Kriegsbeginn ruft der deutsche Bundeskanzler eine fundamentale Änderung der Außenpolitik aus: "Zeitenwende" nennt Olaf Scholz das in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag. Deutschland will massiv in sein Militär investieren, die bisherige wirtschaftliche Verflechtung mit dem Angreiferstaat Russland wird zurückgedreht. Russland wird boykottiert.
Und dennoch hagelt es seit Wochen Kritik aus der Ukraine, vor allem weil Deutschland noch immer Unmengen von Rohstoffen aus Russland bezieht und Geld nach Moskau überweist. Nach der Evakuierung von gut 100 Menschen aus dem von den Russen belagerten Stahlwerk in Mariupol Anfang Mai sagt die ukrainische Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk: "Wir haben das Recht, emotional zu sein. Wir haben das Recht, mehr zu fordern - mehr Waffen, mehr Sanktionen (...) Sie verlieren Geld, während wir Leben verlieren!" Es wird immer deutlicher: Deutschlands außenpolitische Neuausrichtung ist ein schmerzhafter Prozess und er verläuft parallel zum Schicksal der Ukraine und zur Entwicklung dieses Krieges.
Zeitenwende: Abkehr von deutschen Grundannahmen
Und das hat viel zu tun mit der Kritik an der deutschen Politik seit 2014, seit der pro-europäischen Maidan-Revolution der Ukraine und den Angriffen Russlands auf die völkerrechtlich verbriefte Souveränität des Landes. Es habe sich "schon etwas verändert seit 2014 in der deutschen Politik nämlich eine durchaus kritischere Haltung gegenüber Russland im Vergleich zu 2014 trotz Nord Stream zwei", sagt die Osteuropa-Expertin Margarete Klein von dem Berliner Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), der auch die deutsche Regierung berät. "Aber es hat kein grundlegender Paradigmenwechsel der deutschen Russland-Politik stattgefunden; diese basierte weiterhin auf einer Reihe von nicht haltbaren Grundannahmen wie, dass man ökonomische Kooperation und sicherheitspolitischen Konflikt voneinander trennen könnte", so Klein. Oder auch, "dass eine europäische Sicherheitsordnung nur mit Russland geschaffen werden kann." Nach Ansicht der Berliner Politikwissenschaftlerin bedeute "Zeitenwende”, "dass man diese Grundannahmen revidiert, dass man tatsächlich versteht, dass ökonomische Kooperation auch sicherheitspolitische Auswirkungen haben kann."
Die Ukraine wurde lange nicht wahrgenommen
Dass Deutschland sich durch die Energieabhängigkeit von Russland erpressbar mache, davor haben fast alle Länder Ostmitteleuropas und auch die Ukraine immer wieder gewarnt. Doch die Ukrainer seien schlicht nicht wahrgenommen worden, sagt selbstkritisch der deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel. "Das heißt, die ganze europäische Wahrnehmung ist - und das galt für mich auch und für viele meiner Generation - russozentrisch", sagt Schlögel im Gespräch mit der DW. "Wer ging schon in die Ukraine" – oder auch in andere "Provinzen" des Sowjetreiches? "Das hängt sicher damit zusammen, dass die Ukraine immer als Teil, als Provinz, als Hinterhof sozusagen der Sowjetunion gesehen wurde und früher auch des Russischen Reiches. Man hat sie gar nicht als eigenständiges Subjekt, als Nation, Volk wahrgenommen."
Das wäre zumindest ein Teil der Erklärung für die Schärfe der Kritik aus der Ukraine an der deutschen Außenpolitik: Wer mag schon akzeptieren, dass es einen selbst gar nicht geben soll? Und das wiegt im Falle Deutschlands besonders schwer, das im Zweiten Weltkrieg seine osteuropäische Nachbarn überfallen und sechs Millionen europäische Juden systematisch vernichtet hat: "Bis zuletzt war der Hauptschauplatz der deutschen Verbrechen im Osten, sprich die Ukraine und Belarus, überhaupt nicht auf der Landkarte", konstatiert Osteuropahistoriker Schlögel.
Und das obwohl die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in der Ukraine seit 1995 einer großen Öffentlichkeit in Deutschland bekannt gemacht worden ist: Die Wanderausstellung "Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" des Hamburger Instituts für Sozialforschung hat die Gräueltaten der Deutschen in der Ukraine vielen Menschen näher gebracht.
"Es ist ja eigentlich ungeheuerlich, dass es eines neuen Krieges bedarf, um die Ukraine gleichsam wieder als Schlachtfeld auf unsere, in unsere Erinnerung oder unser Wissen, in unseren Horizont zurückkehrt, das ist ja eigentlich dramatisch genug", bilanziert Osteuropahistoriker Schlögel ernüchtert. Man könne jetzt "nur hoffen", dass anders als 2014 nach der erfolgreichen Euromaidan-Revolution und nach dem Beginn von Russlands Krieg in der Ostukraine die Belange der Ukraine nicht mehr von der europäischen Agenda verschwinden. Der Krieg Russlands habe "nicht jetzt im Februar angefangen". Seit 2014 fordere der Krieg Tausende Opfer in der Ukraine und führe zu Flucht und Vertreibung.
Europa als Ausweg
Tatsächlich gibt es für Schriftsteller Andrej Kurkow einen Weg aus diesen deutsch-ukrainischen Verletzungen. Die Erinnerung an die deutsche Gewaltherrschaft in der Ukraine trete derzeit zurück. In seinen Gesprächen in der Ukraine werde "viel weniger über den Zweiten Weltkrieg gesprochen". Wenn die Menschen "über Faschisten reden, meinen die Leute jetzt Russland und nicht Nazideutschland". Auf Deutschland und seine Außenpolitik werde in der Ukraine vor allem geschaut, weil es als "Hauptland in der Europäischen Union" wahrgenommen werde. Die Ukraine will EU-Mitglied werden.
Den Eliten in Kiew sei klar, dass eine NATO-Mitgliedschaft viel länger dauern könne – "Europa ist eine große Hoffnung und auch wichtige Frage für die Unabhängigkeit des Landes", so Kurkow. "Europa bedeutet Sicherheit für die Ukraine."