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PolitikEuropa

Deutschlands Rolle in Osteuropa ist geschwächt

8. April 2022

Die meisten osteuropäischen EU-Staaten fordern ein Öl-Embargo gegen Russland unter deutscher Führung. Mit jedem Kriegstag schwindet das Vertrauen in die Regierung in Berlin. Und Protestaktionen nehmen zu.

Schwimmerin in rotem Wasser
Schwimmen durch einen blutroten Teich: Protestaktion vor der russischen Botschaft in LitauenBild: Andrius Repsys/AP Photo/picture alliance

Sie haben sich nicht abgesprochen und nur zufällig erfahren, dass sie am selben Tag Protestaktionen gegen den Krieg Russlands in der Ukraine planten: Die litauische Schwimm-Olympia-Siegerin Rūta Meilutytė schwimmt vergangene Woche durch einen blutrot gefärbten Zierteich vor der russischen Botschaft in Litauens Hauptstadt Vilnius. Die Aktion in dem EU-Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg unter Zwang Teil der Sowjetunion geworden war, geht sofort viral in den sozialen Medien.

Wenige Tage später tötet eine russische Rakete 50 Flüchtende am Bahnhof der ostukrainischen Stadt Kramatorsk. Während die Olympionikin durch den roten Teich schwimmt, legen sich dutzende Demonstranten auf den Boden vor der Botschaft Deutschlands in Vilnius und stellen sich tot. Aus Protest, weil Berlin bis heute kein vollständiges  Öl- und Gas-Embargo gegen Moskau durchsetzt, weil aus der EU jeden Tag Millionen Euro nach Russland fließen. 

Deutschlands Ansehen sinkt mit jedem Kriegstag

"Sie füttern den Teufel", sagt Oleg Surajev. Der Comedy-Künstler hat zu diesem Protest aufgerufen. Die Aktion zeigt, wie Deutschlands Reputation in Litauen mit jedem Kriegstag weiter sinkt. Deutschland sei für ihn immer "ein Beispiel für Moral" gewesen, sagt der 33-Jährige im Gespräch mit der DW, ein Beispiel, von dem man sich in Litauen viel abgeschaut habe, ein Vorbild. "Jetzt fühlt es sich so an, als sei der Vater doch kein so guter Mensch." Und das gelte nicht nur für die Wahrnehmung in Litauen. "Viele Polen sehen das genauso."

​​​​Protest gegen den Krieg und gegen das Verhalten Berlins: Menschen vor der deutschen Botschaft in Vilnius stellen sich totBild: Andrej Vasilenko

Gemeinsam mit polnischen Aktivistinnen und Aktivisten hat er zuvor die Autobahn im polnischen Poznan aus Protest gegen den Handel mit Russland blockiert: Gegen Firmen, die trotz Embargo-Aufrufen weiter Geschäfte in Russland machen. "Viele polnische Lastwagen-Fahrer bis hin zur Polizei - alle haben uns unterstützt." Mit Ausnahme Ungarns fordern fast alle mittelosteuropäischen Staaten ein vollständiges Energie-Embargo gegen Russland. "Wir bezahlen die Gehälter der Soldaten, die Massaker in Städten wie Butscha begehen", sagt auch der Außenminister Litauens, Gabrielius Landsbergis, im Interview mit der DW. Litauen und seine Nachbarländer Lettland und Estland haben frühzeitig Schritte eingeleitet, um sich von russischem Gas unabhängig zu machen - in Litauen mit einem Flüssiggas-Terminal in der Hafenstadt Kleipeda und einem Pipeline-Netz, mit dem sich die baltischen Staaten gegenseitig versorgen können. 

Dass Deutschland nicht führt und vorangeht, die Gas- und Öl-Lieferungen nicht stoppt, weil sonst die eigene Wirtschaft leidet - das kostet jeden Tag viel politischen Kredit gerade in den baltischen Staaten, sagt der Osteuropa-Forscher Volker Weichsel im DW-Gespräch. "Die Wahrnehmung der Balten ist, dass Geschwindigkeit wichtig ist und dass diese unglaubliche Trägheit der deutschen Politik, auch das Festhalten an Gesetzen und Regeln, bereits der Geschwindigkeit des autoritären Regimes in Russland nichts entgegenzusetzen hatte und jetzt der Geschwindigkeit des Krieges erst recht nicht." Die deutsche Politik, mit Russland im Geschäft zu bleiben, durch Handel einen politischen Wandel zu befördern - all das sei gescheitert.

Deutschland hat die Warnungen vor Russland überhört

"Deutschland steht energiepolitisch auf ganzer Linie vor einem Trümmerhaufen." Viele Jahre hätten die Regierungen in Vilnius, Riga oder Tallinn, aber auch in Warschau vor dieser Nähe zu Russland gewarnt. "Jetzt erleben wir eine rasante Veränderung, die einem 100-Meter-Lauf gleicht: Alle haben eine Strecke zurückzulegen. Jedoch: Diejenigen, die Russlands aggressives Vorgehen schon lange beobachtet haben, die haben nur noch zehn Meter zu rennen." 

Getötete am Bahnhof im ostukrainischen Kramatorsk nach russischem RaketenangriffBild: Hervé Bar/AFP/Getty Images

Für die Osteuropäer sei klar, dass sie als nächstes von Putins Truppen angegriffen würden, wenn die Ukraine diesen Krieg nicht gewinne. "Neben den Waffenlieferungen wäre es eben ein Embargo auf den Energieimport, das Russland massiv schwächen würde. Vor allem ein Ölembargo. Dies ist es, was die baltischen Staaten fordern: ein sofortiges Öl-Embargo."

Doch zu wenig mehr als einem Importstopp für Kohle konnten sich in Brüssel die EU-Verhandler vergangene Woche wieder nicht durchringen. Dabei gehe es um Zeit, die die Ukraine nicht habe. "Die NATO will die Sicherheit der baltischen Staaten und Polens vor allem durch nukleare Abschreckung garantieren", analysiert Weichsel. Doch nach mehr als sechs Wochen russischem Angriffskrieg zeige sich: "Die Abschreckungslogik lässt sich umdrehen, durch rasche Geländegewinne mit konventionellen Truppen." Daher gehe es um Waffenlieferungen. "Und zwar nicht nur sogenannte Defensivwaffen. Denn für die ist es zu spät. Es waren zu wenige da, um Russland überall aufzuhalten. Deswegen stehen die Truppen im Osten und Süden der Ukraine im Land. Es geht darum, den geplanten weiteren Vormarsch im Osten aufzuhalten, einen möglichen neuen Ansturm auf Kiew aufzuhalten, aber auch darum, die besetzten Gebiete, die nicht verteidigt werden konnten, zurückzugewinnen."

Angriffswaffen für die Ukraine gefordert

Osteuropaforscher Weichsel ist überzeugt, Deutschland könne das in den vergangenen Kriegswochen verlorene Vertrauen bei seinen osteuropäischen EU-Partnern nur zurückgewinnen, wenn es diese Linie jetzt aktiv vertrete - und die Führungsrolle in der Europäischen Union übernehme. "Die Wahrnehmung, dass Deutschland einfach nur mit Arroganz agiert hat, die hat sich natürlich massiv verstärkt", sagt Weichsel. "Aus polnischer Sicht ist heute doch klar, dass Warschau einfach mit seiner Einschätzung der Lage Recht hatte. Die schiere Tatsache, dass der deutsche Ansatz ‑ Einhegen durch Dialog, Brücken nicht abbrechen, Verständnis zeigen - dass dieser Ansatz gescheitert ist, das wird politische Auswirkungen haben." Die Stellung Deutschlands in Europa werde immer schwächer. "Und mit jedem Tag, an dem Berlin das nicht sieht, wird es schlimmer", so Weichsel.

Protest in Vilnius vor der Botschaft DeutschlandsBild: Mindaugas Kulbis/AP/picture alliance

Auch bei jungen Künstlerinnen und Künstlern wie Oleg Surajev aus Vilnius, der den Protest vor der deutschen Botschaft organisiert hat. Er habe selbst lange in Berlin gelebt, sagt er, ihm seien die Gründe für Deutschlands Zurückhaltung, der Blick auf die Gräueltaten des nationalsozialsozialistischen Deutschlands in Osteuropa sehr wohl bewusst. Doch es sei genau diese Geschichte, weshalb Deutschland jetzt handeln und die Ukraine unterstützen müsse - auch wenn es dem Land und der Europäischen Union wirtschaftlich schade. "Wir sind jetzt alle Europäer, und ich fühle mich schuldig für die Ukraine." Für ihn sei die Berliner Mauer, ihr Fall und der Sieg über die kommunistische Gewaltherrschaft gemeinsame europäische Geschichte. Das Gebäude, vor dem er und seine Mitstreiter sich vergangene Woche totgestellt haben, das Gebäude der deutschen Botschaft in Vilnius, beherbergte bis zur Öffnung des Eisernen Vorhangs die kommunistische Partei der Sowjetrepublik Litauen.