1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Corona wird Test für unsere Gesellschaft"

Sabine Peschel
30. März 2020

Der Mensch ist gut, sagt der Historiker Bregman. Ein "Lichtblick" in Zeiten der Corona-Krise? DW sprach mit dem Bestsellerautor über unser Verhalten in Extremsituationen.

phil.cologne -  Historiker und Journalist Rutger Bregman
Bild: picture-alliance/dpa/H. Galuschka

Rutger Bregmans Buch "Utopien für Realisten" war 2017 ein internationaler Bestseller. 2019 wurde der 31-jährige, in den Niederlanden geborene, Historiker zum Internet-Helden, als sich ein Video verbreitete, das zeigt, wie er beim  Weltwirtschaftsforum in Davos die Superreichen kritisiert. Katastrophen und Krisen bringen das Beste im Menschen zum Vorschein, behauptet er in seinem soeben erschienenen Buch "Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit". DW sprach mit dem Autor für unsere lockere Reihe "Lichtblicke" darüber, wie die Menschheit auf die aktuelle Pandemie reagiert.

DW: In Ihrem neuen Buch "Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit" vertreten Sie die These, dass die grundlegende Natur des Menschen gut sei. Aber sind wir Menschen denn nicht von Natur aus egoistisch und aggressiv, erst recht in einer Krise?

Rutger Bregman: Diese Vorstellung, dass die Zivilisation nur eine ganz dünne Schutzschicht sei, existiert in unserer westlichen Kultur tatsächlich seit langem. Dass wir uns von unserer schlechtesten Seite zeigten, sobald irgendetwas Schlimmes geschieht, sagen wir, ein Krieg, eine Naturkatastrophe oder eine Epidemie wie jetzt. Dann entblößen wir unser wahres, animalisches Selbst. Das ist eine uralte Annahme in der westlichen Geistesgeschichte, die sich zu den klassischen Griechen, den Gründungsvätern der christlichen Kirche und den Philosophen der Aufklärung zurückverfolgen lässt. Und es ist eines der zentralen Dogmen unseres gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaftsmodells.

Aber wissenschaftlich betrachtet ist das falsch. In den letzten 15, 20 Jahren konnten wir erleben, dass Wissenschaftler ganz verschiedener Richtungen - Soziologen, Psychologen, Anthropologen, Archäologen und andere mehr - viel hoffnungsvoller auf die Menschheit blicken. Wenn man sich die Fakten ansieht, das tatsächliche Verhalten der Menschen im Verlauf der Geschichte und bei Experimenten, dann erkennt man, dass die meisten Menschen ziemlich anständig sind.

Aber bringt nicht die Corona-Krise unsere dunkleren, egoistischeren Seiten zum Vorschein? 

Natürlich ist es aktuell ziemlich einfach zu sehen, wie selbstsüchtig sich manche Menschen verhalten. Man braucht nur den Fernseher anzumachen, schon sieht man Berichte über Panikkäufe und Bilder von Menschen, die Klopapier horten oder sich sogar darum prügeln. Trotzdem glaube ich, dass sich die meisten Menschen auch gegenwärtig sehr sozial verhalten.

Für jeden Panikkäufer gibt es tausend Krankenschwestern und Pfleger, die bis zum Umfallen arbeiten. Für jeden Horter gibt es Tausende, die sich in Facebook- und WhatsApp-Gruppen voller Hilfsbereitschaft in der Nachbarschaft organisieren. Diese Bereitschaft zur Zusammenarbeit und die Uneigennützigkeit, die sich explosionsartig innerhalb kürzester Zeit gezeigt haben, beeindrucken mich ungemein.

Und das werden wir weiterhin brauchen, und zwar viel davon, denn diese Krise wird lange anhalten. Sie wird zu einem Test für unsere Gesellschaften. Aber bisher, finde ich, sind die Zeichen hoffnungsvoll.

Wird uns die Corona-Krise verändern? 

Wenn wir sie unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachten, dann ist die größer als der Finanzcrash von 2008. Meine Hoffnung ist, dass die Corona-Krise dazu beitragen wird, uns in ein neues Zeitalter der Zusammenarbeit und Solidarität zu befördern, dass die Erkenntnis in uns reift, dass wir das nur gemeinsam schaffen.

Seit den 1970er und -80ern haben wir den Aufstieg des Neoliberalismus erlebt. Das zentrale Dogma des Neoliberalismus ist, dass der Mensch egoistisch ist. Deshalb haben wir unsere Institutionen gemäß dieser Vorstellung eingerichtet, unsere Schulen, unsere Arbeitsplätze, unsere Demokratien. Die Regierung wurde dabei immer unwichtiger.

Buchcover von Bregmans aktuellem Buch "Im Grunde gut"

Aber jetzt, da wir eine Pandemie erleben, erkennen wir, dass wir vereint handeln müssen. Wir brauchen eine starke und durchsetzungsfähige Regierung. Wir brauchen Zusammenarbeit in gewaltigem Ausmaß, eine globale Zusammenarbeit. Deshalb hoffe ich, dass diese Krise definitiv das Ende der Ära des Neoliberalismus bedeuten wird, dass wir ein neues Bild der menschlichen Natur erlangen und die Menschen nicht länger als grundsätzlich egoistisch, sondern als ganz schön anständig ansehen.

Das Internet ist voller Hass und Fake News. Wo bleibt da der Anstand? 

Ich finde, dass das Internet in diesen Tagen auch sehr viel Positives leistet. Wenn man sieht, wie schnell sich das Wissen verbreitet, wie die Menschen via Internet die Nachricht verbreiten, dass man sich voneinander fern halten soll und wie wichtig es ist, sich die Hände zu waschen, dann fällt die Rechnung absolut positiv aus: Die große Mehrzahl der Botschaften in den sozialen Medien dient jetzt einer guten Zukunft.

Aber wir sind von all dem Negativen oder den Fake News, die sich ausbreiten, offensichtlich immer mehr beeindruckt als von guten Nachrichten. Denn das ärgert uns richtig. Wir sollten uns dabei aber unseres Negativitätseffekts bewusst sein, so nennen das die Psychologen. Dieser Negativitätseffekt bedeutet, dass sich all das Schlechte psychisch stärker auswirkt als Positives. So funktioniert unser Gehirn einfach.

Bedeutet die Corona-Krise den Anfang vom Ende der Globalisierung?

Es ist viel zu früh, um das zu sagen. Was eine Krise bewirkt, ist, dass sie den Status Quo infrage stellt. Das heißt nicht automatisch, dass wir uns nach der Krises auf ein Utopia zubewegen. Aber sie ist eine Chance für politische Veränderung. Wir können neu über die Rolle der Regierung und der Wirtschaft nachdenken. In den letzten Jahrzehnten hatte sich die Ansicht durchgesetzt, dass die Regierung zurückweichen müsste, dass sie der Wirtschaft nur im Weg stünde.

Wenn wir an unsere Umwelt denken, dann ist klar, dass wir nach dem Ende der Pandemie anfangen müssen, enorm hart an der größten Aufgabe unserer Zeit zu arbeiten. Um uns durch die Herausforderungen des Klimawandels zu führen, brauchen wir eine ambitionierte Regierung.

Rutger Bregman: "Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit", übersetzt von Ulrich Faure und Gerd Busse, Rowohlt Verlag 2020, 480 Seiten.

Rutger Bregman: "Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen", übersetzt von Stephan Gebauer, Rowohlt Verlag 2017, 320 Seiten.

 

Das Interview führte Sabine Peschel.