Séraphine
15. Dezember 2009Séraphine – das ist im Film von Martin Provost erstmal eine wortkarge, etwas linkische und verschrobene Putzfrau um die 50. Sie serviert den Tee barfuss, badet selbstvergessen nackt in einem Fluss, streichelt intensiv Baumrinden. Dabei schleppt sie immer einen Korb mit sich, den sie mit allem Möglichen füllt: feuchte Erde vom Rand eines Baches, Kerzenwachs, den sie in der Dorfkirche klaut, oder Blut, beim Fleischer heimlich abgefüllt.
Das alles ist Material, das sie für ihre fast zwanghafte Leidenschaft braucht: das Malen. Ihre Motive sind Obst, Bäume, Insekten, die sie in kräftigen Farben nachts malt, während sie gregorianische Lieder singt. Ihre Inspiration kommt wortwörtlich vom Himmel: Sie fühlt sich von ihrem Schutzengel dazu berufen.
Séraphine de Senlis – eigenbrötlerische Autodidaktin
Die Malerin Séraphine de Senlis hat Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt. Sie gilt bis heute als eine der bedeutendsten Vertreterinnen der so genannten naiven Kunst, ihre Werke hängen in verschiedenen französischen Museen. Die Künstlerin ist aber bis zum Film von Martin Provost weitgehend unbekannt geblieben.
Entdeckt wurde sie 1912 vom deutschen Kunstsammler Wilhelm Uhde, der sich gerade im Dorf Senlis eingemietet hatte und bei dem Séraphine putzte. Eines Tages stieß er zufällig auf eines ihrer Bilder und war gleich begeistert. Der Film "Séraphine" legt den Fokus auf diese Begegnung. Das war eine Art platonische Liebesbeziehung, erklärt Ulrich Tukur, der Uhde im Film spielt: "Séraphine ist eine Außenseiterin, randständig verrückt, übersteigert religiös. Sie kommt gerade so durchs Leben. Wilhelm Uhde war ein sehr gebildeter, ästhetisch empfindsamer Mensch, der auch ein bisschen durch die Raster der Gesellschaft gefallen war wie sie: Er war Deutscher und homosexuell."
Kauziger Mäzen
Uhde, der bereits Bilder von Picasso und Braque erworben sowie den Zöllner Rousseau entdeckt hat, fördert Séraphine. Bis er zu Beginn des ersten Weltkriegs Frankreich verlassen muss. Als er 1927 nach Senlis zurückkehrt, hat sie sich an seine Ratschlägen gehalten und ihren Stil weiterentwickelt. Sie malt nun bis zu zwei Meter hohe Bilder. Diese werden immer unruhiger, wirken zum Teil apokalyptisch. Beim Anschauen eines ihrer Werke wird es einer Nachbarin unheimlich. "Mir machen meine Bilder auch Angst", antwortet Séraphine.
Uhde will die Künstlerin in Paris ausstellen, doch die Wirtschaftskrise hindert ihn zunächst daran. Darüber enttäuscht, aber vor allem auch von Erscheinungen, die sie immer häufiger heimsuchen, beeinträchtigt, bricht Séraphine psychisch zusammen. Sie wird in eine Nervenklinik eingewiesen. Ihre "Künstlerkarriere" ist zu Ende. Sie wird nie wieder einen Pinsel in die Hand nehmen. 1942 stirbt Séraphine.
Geniale Interpretation von Yolande Moreau
Ohne Pathos skizziert Provost das Porträt dieser einzigartigen Künstlerin und nimmt sich in langen Einstellungen Zeit dafür. Er benutzt gedeckte Farben, die Séraphines Bilderwelt umso bunter und kräftiger leuchten lassen. Vor allem aber wird sein mit sieben Césars ausgezeichneter Film von der Hauptdarstellerin Yolande Moreau getragen. Ob Stimme, Körper, Gesichtsausdruck – ihre Interpretation ist durch und durch stimmig. Für ihre berührende und auch komische Darstellung der eigenbrötlerischen Séraphine wurde sie zu Recht überall gefeiert. "Was mich fasziniert", erzählt die belgische Schauspielerin, "ist Séraphines Willen von der Kunst nicht loszulassen. Von Anfang an war sie fragil, einsam, leidend. Sie hat in der Malerei einen Ausweg gefunden."
Aber auch Ulrich Tukur spielt angenehm zurückhaltend in einem zu 100 Prozent überzeugenden Französisch: "Mich hat es gereizt, in einer unzerstörten Landschaft an der Marne im Umland von Paris, wo sich auch viele Impressionisten wie Monet und Renoir aufhielten, einen zerbrochenen Charakter zu verkörpern."
Martin Provost wollte mit "Séraphine" ein fast vergessenes Talent würdigen und dabei das Geheimnis ihrer Kunst wahren. Das hat er geschafft. Mehr als eine halbe Millionen Franzosen haben seinen Film bisher gesehen. Und die Retrospektive, die das Pariser Musée Maillol der Künstlerin zeitgleich zum Filmstart widmete, wurde mehrmals verlängert. "Als ich all ihre Werke im Museum sah, ging es mir wirklich unter die Haut", sagt Yolande Moreau, "als würde Séraphine unter uns sein."
Autorin: Guylaine Tappaz
Redaktion: Jochen Kürten