Südkorea: Eine blutende Nation
15. Mai 2014"Kann Südkorea sich nach Sewol verändern? Hoffentlich." Ein Tweet, geschrieben knapp einen Monat nach der Katastrophe. Ganze 39 Zeichen umfasst der Text im englischen Original. Das reicht, um eine zentrale Frage zu stellen, die viele Menschen in Südkorea nicht mehr loslässt. Es geht um nicht weniger als das Selbstverständnis des Landes, das Motto, mit dem Südkorea sich seit Jahrzehnten identifiziert: Wachstum um jeden Preis. Und damit verbunden die quälende Frage, ob eben diese Leitlinie - auf die man so stolz war - schuld ist am Unglück vom 16. April. Die Fähre war mit 476 Personen an Bord - darunter 325 Schüler - vor der Südwestküste des Landes gekentert. Nur 172 Menschen konnten gerettet werden.
Noch immer dauern die Bergungsarbeiten an, bis heute konnten nicht alle Vermissten geborgen werden. Längst ist die anfängliche Hoffnung der Angehörigen, doch noch Überlebende zu finden, in Verzweiflung und vor allem auch Wut umgeschlagen: Wut auf das Krisenmanagement der südkoreanischen Regierung und der Behörden. Die Hinterbliebenen verlangen Antworten. Sie wollen wissen, warum die ersten Rettungsmaßnahmen erst so spät gestartet wurden. Und sie fordern, dass die Verantwortlichen bestraft werden. Aus diesem Grund kommt es in Seoul immer wieder zu Demonstrationen in der Nähe des Präsidenten-Palastes.
Unzulängliches Katastrophenmanagement und Suche nach den Schuldigen
Es dauerte knapp zwei Wochen, bis sich Südkoreas Präsidentin Park Geun Hye erstmals öffentlich bei den Menschen in ihrem Land entschuldigte - und Fehler beim Umgang mit der Katastrophe einräumte. Kurz zuvor hatte es mit dem angekündigten Rücktritt von Premierminister Chung Hon Won bereits eine erste personelle Konsequenz gegeben. Darüber hinaus sind der Geschäftsführer der Reederei Chonghaejin Marine und vier weitere Mitarbeiter in Untersuchungshaft, und gegen den Kapitän und drei weitere Crew-Mitglieder wurde an diesem Donnerstag (15.5.) Anklage wegen Totschlags erhoben. Auch alle weiteren überlebenden Mitglieder der Sewol-Besatzung sind in Gewahrsam.
Doch all das reicht nicht aus, um die üblicherweise so disziplinierten Südkoreaner zu beruhigen. Einen Monat nach dem Untergang der Sewol taumelt das Land noch immer, schreibt der südkoreanische Autor Kim Young Ha in einem Gastkommentar für die "New York Times". "Für Außenstehende mag es so aussehen, als sei die Sewol-Tragödie eine Tragödie wie andere auch. Eine, die die Nation zwangsläufig irgendwann überwinden wird." Doch dieses Bild trügt aus seiner Sicht. "Hier in Südkorea fühlt es sich an, als ob das Land nie wieder so sein wird wie früher. Das Unglück hat unsere nationale Psyche traumatisiert und unser Selbstbild untergraben." Viele Südkoreaner würden sich fragen, ob das "zügellose Wachstum gepaart mit der nachlässigen Regulierung von Seiten der Regierung" einen zu hohen Preis hatten.
Jahrzehntealte Werte auf dem Prüfstand
Ähnliche Beobachtungen hat auch Lee Eun Jeung von der Freien Universität Berlin gemacht. Die Professorin am Institut für Korea-Studien stellt seit dem Unglück einen neuen Trend im Land fest. "Es kommen jetzt ganz grundsätzliche Zweifel am südkoreanischen Erfolgsrezept auf. Früher gab es so etwas nicht", so Lee gegenüber der Deutschen Welle. Doch die Kinder, die vor den Augen der Nation mit der Fähre untergingen, hätten etwas verändert. In der Mentalität der südkoreanischen Gesellschaft zähle Erfolg mehr als Menschenleben - das sei der quälende Gedanke, der vielen keine Ruhe lasse. "Erwachsene haben Schuldgefühle gegenüber der jungen Generation - weil wir das System selbst erschaffen haben und jetzt Kinder Opfer eben dieses Systems geworden sind."
Der Tod von 300 Menschen - die meisten davon Schüler, die eigentlich unterwegs zu einem Ausflugsziel waren - hat Südkorea in eine Identitätskrise gestürzt, meint auch Kim Young Ha. "Wir versinken in Selbstreflexion. War all unser Fortschritt nur eine Fassade? Sind wir tatsächlich ein fortschrittliches Land?" Und Norbert Eschborn von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Seoul spricht gegenüber der DW von einer "Gewissensprüfung, einer Art Seelensuche im Land".
Südkorea kann auf einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg zurückblicken. Innerhalb weniger Jahrzehnte gelang es, sich von einem durch Kolonialisierung und Krieg gebeutelten Entwicklungsland zu einem Industriestaat und Geberland zu entwickeln. Südkorea ist heute Mitglied der G20, das Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2012 gut 1.100 Milliarden US-Dollar. Das turbohafte Wachstum ging nicht zuletzt auf Kosten der Sicherheit: Mehrfach kam es in der Vergangenheit zu Unglücken, bei dem bis dahin schlimmsten Fährunglück kamen 1993 insgesamt 292 Menschen ums Leben. Mehr als 500 wurden zwei Jahre später beim Einsturz eines Einkaufszentrums getötet. Und Anfang 2003 starben bei einem U-Bahn-Brand in Daegu 213 Menschen.
Grassierende Korruption und Verflechtung zwischen Staat und Wirtschaft
Ein in Südkorea allgegenwärtiges Problem, das auch im Zuge des Fährunglücks immer wieder thematisiert wird, ist die Vetternwirtschaft. Staat und Wirtschaft sind im Land traditionell eng miteinander verknüpft. "Das ist allgemein bekannt. Aber bis jetzt ist es der Politik und der Wirtschaft gelungen, große Skandale zu vermeiden", erklärt Lee Eun Jeung von der FU Berlin. Der Untergang der Sewol allerdings wirft allgemein ein schlechtes Licht auf die Zustände: So ist beispielsweise ausgerechnet der Lobbyverband der Schifffahrtsbetriebe, die "Korea Shipping Association", für die Zulassung von Schiffen zuständig - und damit auch für die Qualitäts- und Sicherheitsprüfungen.
Im Zuge der Untersuchungen nach dem Fährunglück erhärtete sich der Verdacht, dass das Unternehmen Chonghaejin Marine gravierend gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen hatte: Ermittler vermuten, dass eine Überladung und frühere Umbauten mit dafür verantwortlich waren, dass das Schiff kenterte. Mittlerweile hat die Regierung der Reederei die Lizenz für die Unglücksstrecke entzogen. Darüber hinaus wolle das Unternehmen freiwillig Betriebslizenzen auch für andere Strecken zurückgeben, erklärte ein Sprecher des Meeresministeriums.
Die Medien als Unterstützer der Regierung?
Auch die Medien spielen im Zusammenhang mit der Tragödie eine besondere Rolle, erklärt Lee Eun Jeung. Die südkoreanische Medienlandschaft sei gespalten, und das staatliche Fernsehen beispielsweise bilde nur die Positionen der Regierung ab. "Investigativer Journalismus findet dort nicht statt. Wenn es im Land kritische Meinungen gegenüber der Regierung gibt, dann wird darüber einfach nicht berichtet."
Zwar hätten unabhängige Journalisten nach dem Untergang der Sewol eine kritische Analyse der Tragödie geschrieben. Allerdings habe es auch umgehend eine Gegenreaktion darauf gegeben. "Das staatliche Fernsehen und einige wichtige Tageszeitungen haben sofort versucht, den Fokus der Berichterstattung auf die Familie des Reeders und dessen Verbindungen zu einer Sekte zu lenken. Er wurde individuell dämonisiert." Die Verbindungen der Unternehmerfamilie zur Politik seien dagegen überhaupt nicht thematisiert worden. "Solange die Medien dieses Spiel mitspielen, sehe ich kaum Chancen, dass sich grundsätzlich etwas ändert."
Die Verantwortung einer ganzen Nation
Im Laufe der Zeit werde die Tragödie in den Köpfen der meisten Menschen langsam verblassen, heißt es in einem Kommentar der "Korea Times". Nicht so bei den Hinterbliebenen. Sie zu stützen sei die Aufgabe des ganzen Landes, appelliert der Autor. "Die Nation ist in der Verantwortung, die Trauer der Angehörigen und ihre Frustration über das Versagen des sozialen Systems in Südkorea zu teilen."
Das Urteil über die Präsidentin fällt einen Monat nach der Katastrophe hart aus. Das Verhalten der "Kapitänin des Schiffes Südkorea" und ihrer Regierung erinnere an das des unfähigen und unverantwortlichen Kapitäns der Unglücksfähre.