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"Ihr seid frei, meine Brüder!"

Marcel Fürstenau, zurzeit Sachsenhausen19. April 2015

Mit diesem Satz begrüßte ein polnischer Soldat vor 70 Jahren die befreiten Häftlinge im KZ Sachsenhausen. Zum Gedenken nördlich von Berlin kamen rund 100 Überlebende aus aller Welt. Marcel Fürstenau berichtet.

Gedenkfeier zur Befreiung der KZ vor 70 Jahren in Brandenburg
Bild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Roger Bordage ist 17 Jahre jung, als er sich der Résistance in Frankreich anschließt. Für seinen Mut zahlt er einen hohen Preis. Wenige Monate später wird er beim Versuch, seine Heimat Richtung Spanien zu verlassen, verhaftet und im Mai 1943 ins deutsche Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Weil er noch bei Kräften ist, muss er für die Nazis Zwangsarbeit leisten. Zwei Jahre später, gut zwei Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, lässt die SS das Lager evakuieren. Rund 27.000 Häftlinge werden auf den sogenannten Todesmarsch Richtung Lübecker Bucht geschickt. Am 3. Mai ergeben sich die begleitenden SS-Wächter den sowjetischen Soldaten. Die Überlebenden, darunter Roger Bordage haben zwölf Tage Fußmarsch hinter sich. Der Widerstandskämpfer aus Paris wiegt noch 33 Kilo.

Roger Bordage: "Leider sind nur wenige Überlebende anwesend"

Zum Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers vor 70 Jahren kehrt der inzwischen 90-Jährige an den Ort des Schreckens zurück. Als Präsident des Internationalen Sachsenhausen-Komitees spricht er vor rund 1000 Gästen über die Zeit des Leidens, aber auch über die Gegenwart und die Zukunft. "Leider sind nur wenige Überlebende anwesend, und sie gehen aufgrund ihres hohen Alters immer zahlreicher von uns", sagt Bordage. Immerhin sind noch rund 100 Überlebende aus aller Welt zu den mehrtägigen Gedenkveranstaltungen angereist. Sie finden dezentral an den vielen Orten des Schreckens im Land Brandenburg statt. Unter anderem in Ravensbrück, einem weiteren früheren KZ in der Nähe Berlins. Dort sind bis 1945 ganz überwiegend Frauen inhaftiert.

Ein ehemaliger KZ-Häftling aus Polen sitzt an der "Mauer der Nationen" in der Mahn- und Gedenkstätte des früheren Konzentrationslagers RavensbrückBild: picture-alliance/dpa/P. Pleul

Nach der Befreiung der Lager, nach dem Ende des Todesmarsches, sterben noch viele entkräftet und von Krankheiten gezeichnet. Bordage erinnert an die etwa 3000 im KZ Sachsenhausen verbliebenen Kameraden, die für den täglich 30 Kilometer langen Todesmarsch zu schwach sind. Sie können ihr Glück kaum fassen, als ihnen der polnische Soldat Viktor Sporadez am 22. April 1945 zuruft: "Ihr seid frei, meine Brüder!" Die Inhaftierten, Entrechteten, Gequälten und Ermordeten stammen aus etwa 40 Ländern. "Mögen sie für immer unvergessen bleiben", hofft Bordage und zählt die unterschiedlichsten Opfergruppen auf: Frauen und Männer des politischen Widerstands, Juden, Sinti und Roma, Geistliche, Homosexuelle, Kriegsdienstverweigerer, sogenannte Asoziale und Kriegsgefangene. In Sachsenhausen ermorden die Nazis 13.000 sowjetische Soldaten.

Steinmeier: "Wir verspüren Demut und Dankbarkeit"

Die Gefangenen "in dieser Hölle" hätten nie den Glauben an eine "bessere, solidarische und friedliche" Zukunft verloren, sagt Bordage und schlägt den Bogen zur Gegenwart. Es sei eine stetige Zunahme extremistischer Bewegungen zu beklagen. Der Präsident des Internationalen Sachsenhausen-Komitees beklagt Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und religiösen Fanatismus. Dies alles geschehe in einem gesellschaftlichen Umfeld, das von zunehmender Ungleichheit und einer "besorgniserregenden Vorherrschaft des Geldes" geprägt sei, betont Bordage, der nach dem Krieg 33 Jahre für die Vereinten Nationen gearbeitet hat.

Außenminister Steinmeier dankte in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen den Überlebenden und erinnerte an die Toten: "Wir verneigen uns vor Ihnen"Bild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) dankt Bordage und den anderen Überlebenden für ihr jahrzehnlanges Engagement: "Wir verspüren Demut und Dankbarkeit, dass sie heute an diesen Ort zurückgekehrt sind, um lebendiges Zeugnis zu geben über das furchtbarste Kapitel deutscher Vergangenheit." Steinmeier erinnert daran, wann das KZ Sachsenhausen entsteht und welche herausragende Bedeutung es für die Nazis hat.

Als das Lager 1936 nur fünf S-Bahnstationen von der Reichshauptstadt entfernt von Häftlingen errichtet wird, finden in Berlin die Olympischen Spiele statt. Die Welt lässt sich von der NS-Propaganda bereitwillig täuschen. Vom Leiden tausender Menschen nur wenige Kilometer von den Sportstätten entfernt bekommt (angeblich) niemand etwas mit. Zwei Jahre später entsteht in Sachsenhausen die Verwaltungszentrale des gesamten deutschen KZ-Systems.

Steinmeier geht auch auf aktuelle Entwicklungen in Deutschland ein: Gewalt gegen Juden und Flüchtlinge, brennende Asylbewerberheime. Der Außenminister prangert "in Rudeln durch die Straßen ziehende" Demonstranten an, die mit "dumpfen Parolen gegen alles vermeintlich Fremde" wettern. Angesprochen fühlen dürfen sich Neonazis, aber wohl auch die Sympathisanten von "Pegida" (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). "Das ist nicht das weltoffene Deutschland, für das die ganz große Mehrheit steht", hält Steinmeier ihnen entgegen.

Nach ihm spricht der aus Polen stammende Sachsenhausen-Überlebende Saul Oren. Die meisten seiner jüdischen Familienangehörigen wurden im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Oren lebt seit fast 50 Jahren in Israel. Beim Gedenken zur Befreiung Sachsenhausens vor 70 Jahren sagt er am Ende seiner Rede, was er seit der Pensionierung 1993 macht: Den größten Teil seiner Zeit sei er als Zeitzeuge unterwegs, um die Elebnisse weiterzugeben.

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