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"Nürnberger Prozess veränderte das Völkerrecht"

20. November 2020

Der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gegen Nazi-Größen schrieb Geschichte. Der Völkerrechtler Christoph Safferling über die Bedeutung des Prozesses und die Folgen des Trumpismus, die sein Erbe belasten.

Deutschland | Nürnberger Prozesse | Göring im Zeugenstand
Der ehemalige Reichsmarschall und Luftwaffen-Oberbefehlshaber Hermann Göring auf der AnklagebankBild: akg-images/picture alliance

Am 20. November jährt sich zum 75. Mal der Beginn des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs saßen die Alliierten zu Gericht über die Verbrechen der Nationalsozialisten. Die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich richteten dafür einen internationalen Militärgerichtshof ein. Im Nürnberger Justizpalast wurden schließlich elf Nazi-Größen als Hauptkriegsverbrecher zum Tod durch den Strang und sieben weitere wegen des Planens und Führens eines Angriffskriegs, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Drei Angeklagte kamen frei.

DW: Herr Professor Safferling, was machte den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zu einem historischen Ereignis? 

Der Völkerrechtler Christoph SafferlingBild: Lérot

Safferling: Nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Situation eingetreten, in der die unsäglichen Verbrechen, die gerade von Deutschland aus begangen worden waren, nicht ungesühnt bleiben konnten. Die internationale Gemeinschaft hat sich hier zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte dazu entschieden, nach einem Krieg nicht einfach den Mantel des Schweigens und des Vergessens über die Verbrechen zu hüllen, die natürlich in jedem Krieg begangen werden, sondern dass man eine strafrechtliche Aufarbeitung in Angriff genommen hat. Das war im Völkerrecht der traditionellen Art so nicht denkbar und hat sich in Nürnberg zum ersten Mal materialisiert. Deswegen ist es ein historisches Ereignis. 

Kann man sagen, dass der Nürnberger Prozess die Geburtsstunde des Völkerstrafrechts war?

Ja, es war zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, dass tatsächlich Verbrechens-Tatbestände ausformuliert worden sind. Viele gab es ja vorher gar nicht. Es gab das Konzept der Kriegsverbrechen. Das war seit der Genfer Konvention von 1864 bekannt. Aber Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder das Verbrechen des Angriffskrieges, Verbrechen gegen den Frieden, wie das in Nürnberg noch genannt wurde, gab es vorher in dem Sinne nicht. Diese Tatbestände sind in Nürnberg geboren worden. 

Der ehemalige Reichsmarschall und Luftwaffen-Oberbefehlshaber Hermann Göring auf der AnklagebankBild: akg-images/picture alliance

Erahnten die alliierten Siegermächte die Bedeutung und das Modellhafte des Prozesses für das künftige Völkerstrafrecht?

Den Eindruck muss man haben, wenn man sich die Dokumente anschaut. Und das gilt vor allem für das vielleicht bedeutendste Sprachrohr dieses ganzen Prozesses. Das war der amerikanische Chefankläger Robert A. Jackson. Er war ein Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, der sich aufgrund seiner persönlichen Beteiligung an Diskussionen im Vorfeld und wegen seiner Bekanntheit bei US-Präsident Roosevelt und seinem Amtsnachfolger Truman angeboten hat, diesen Prozess zu organisieren und durchzuführen. Bei ihm sah man ganz deutlich, dass er sich sehr bewusst war, dass es sich um einen beispielhaften Prozess handelte, um ein deutliches Zeichen auch für eine massive Veränderung des Völkerrechts. Diese historische Bedeutung dieses Prozesses war auf jeden Fall bekannt. 

In Deutschland gab es den Vorwurf der Siegerjustiz. Immerhin war der Prozess auf die deutschen Verbrechen beschränkt und die vier Siegermächte hatten den Prozess organisiert. Wie bewerten Sie diese Kritik? 

Aus einer sozusagen nüchternen rechtsstaatlichen Betrachtung ist das selbstverständlich ein Manko. Ganz offensichtlich wurden die Verbrechen der einen Seite verfolgt, die anderen nicht. Und Verbrechen hat es selbstverständlich auch von Seiten der Alliierten gegeben. Da muss man nicht erst an die Bombardements der Zivilbevölkerung in Dresden und andernorts erinnern.

Das bedeutet zwar, dass ein rechtsstaatliches Manko besteht, indem die anderen Verbrechen nicht auch verfolgt worden sind, aber die Ahndung der deutschen Verbrechen wird damit nicht illegitim. Ich glaube auch sagen zu können, dass man in der weiteren Entwicklungsgeschichte - nach einer langen Wartezeit, nach 1990 - gesehen hat, dass die Vereinten Nationen und die internationale Zivilgesellschaft es jetzt fordern, dass solche Verbrechen verfolgt werden. Deswegen kam es zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs, der deutlich zeigen soll: Egal, von welcher Seite auch Verbrechen begangen werden, sie sind strafbar und werden verfolgt. 

Wie werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit heute verfolgt? 

Es gibt, wie es im Übrigen auch schon nach dem Zweiten Weltkrieg war, zwei verschiedene Stufen. Die eine ist eine internationale Ebene mit dem Internationalen Strafgerichtshof als Institution. Er steht dafür, dass auf internationaler, auf völkerrechtlicher Ebene mit einem völkerrechtlichen, international besetzten Gericht Straftaten dieser Art verfolgt werden. Es gibt auf internationaler Ebene noch weitere Möglichkeiten wie Ad-hoc-Tribunale, die nur für eine einzige Situation eingesetzt werden wie zum Beispiel für Jugoslawien und für Ruanda. Auch hybride Strukturen sind möglich: dass mit einem Vertrag zwischen den Konfliktstaaten und den Vereinten Nationen ein Tribunal geschaffen wird. 

Dazu gibt es die Verfolgung internationaler Straftaten auf nationaler Ebene. Beispielhaft ist, dass die Bundesrepublik Deutschland in der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts in Karlsruhe eine ganz bedeutsame und nach Möglichkeit flächendeckende Verfolgung von internationalen Straftaten an den Tag legt. Das bezieht sich insbesondere auf die sogenannten Syrien-Heimkehrer. Also deutsche Staatsbürger, die in Syrien Kriegsverbrechen begangen haben und wieder zurückkommen. Oder eben auch auf Kriegsverbrecher, die etwa als Flüchtlinge getarnt nach Deutschland gekommen sind.

Gerade Länder, die in Nürnberg die Kriegsverbrecherprozesse initiierten - wie die USA und Russland in der Nachfolge der Sowjetunion - ziehen sich zunehmend aus der UN-Gerichtsbarkeit zurück. Warum und mit welchen Folgen?

Das ist eine sehr bedauernswerte Entwicklung. Sie hat mit dem Klima auch in den internationalen Beziehungen und der internationalen Politik zu tun. Wir erleben einen stärker werdenden Isolationismus. Einen Abgesang auf den Multilateralismus. Also die Idee, dass man völkerumspannend global Dinge gemeinsam regelt und gemeinsam an etwas arbeitet. Diese Idee hat sich gerade in den letzten fünf, sechs Jahren - und leider ist das auch sehr deutlich verbunden mit dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump - sehr stark zurückentwickelt.

Die internationale Strafgerichtsbarkeit ist eine besondere multilaterale Entwicklung, weil sie besondere Folgen hat. In dem Sinne, dass strafrechtliche Maßnahmen ergriffen werden können. Das sind sehr harte Eingriffe in nationale Hoheiten, wenn auf internationale Gerichte verwiesen wird, die dann Strafgerichtsbarkeit ausüben. Deswegen lassen sich diese mächtigen Staaten auch ungern hineinregieren. Besonders dann, wenn eigene Staatsangehörige vom Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden können.

Wird sich die Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof unter der US-Präsidentschaft von Joe Biden verbessern?

Mit Biden besteht nun eine realistische Chance, dass die USA zurückkehren in die Familie der Staaten, die sich um multilaterale Lösungen internationaler Probleme bemühen. Das wird sich auf die Bedeutung der Menschenrechte und die Akzeptanz des Völkerstrafrechts positiv auswirken. US-Sanktionen gegen Mitarbeiter*innen des IStGH sind von Biden sicherlich nicht zu erwarten. Eine Mitgliedschaft am IStGH aber ebenso wenig. Respektvoller Umgang und vorsichtige Kooperation wird das Verhältnis zwischen dem IStGH und den USA prägen.

25. Jahrestag des Massakers von Srebrenica

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Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs wollten der Welt vor Augen führen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht ungeahnt bleiben dürfen. Was ist aus dieser Botschaft geworden?

Wir sehen momentan ein deutliches Manko bei der Verfolgung von Straftaten auf internationaler Ebene. Das funktioniert nicht und ist teilweise politisch nicht gewollt. Auf der anderen Seite muss man schon sagen, dass gerade seit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in der internationalen Politik das Völkerstrafrecht eine durchaus relevante Rolle spielt. Man kann heute in Konfliktsituationen nicht mehr verhandeln, ohne dass das Strafrecht sozusagen mit am Verhandlungstisch sitzt. Ein Stück weit ist der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs wenigstens virtuell als Droh-Gestalt dabei. Und das ist auch gut so, dass diese Tatbestände ernst genommen werden. Dass klar ist, diese können Konsequenzen haben, sie sollen Konsequenzen haben.

Vielleicht dauert es manchmal zu lang. Aber es kann sich heute kein Diktator der Welt mehr sicher sein, dass nicht doch irgendwann mal eine internationale Strafjustiz zuschlägt. Und diese Veränderung ist letztlich der Entwicklung in den 90er Jahren bis zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs zu verdanken. Und das wiederum wäre nicht möglich gewesen ohne die Nürnberger Prozesse von 1945.

Christoph Safferling (*1971) ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.

Das Gespräch führte Ralf Bosen

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