Die afghanische Regisseurin Sahraa Karimi glaubt an die Macht der internationalen Filmcommunity. In Venedig stellt sie nicht nur ihr neues Filmprojekt vor.
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In Venedig finden die Filmfestspiele statt - weit weg von Kabul und den Taliban. Afghanische Filmschaffende nutzen die internationale Bühne, um die weltweite Filmgemeinschaft zur Solidarität mit den bedrohten Menschen in ihrem Heimatland aufzurufen. Unter ihnen die Filmemacherin Sahraa Karimi. Auch sie schlägt in Venedig Alarm und will dafür sorgen, dass die Welt ihr Land und ihr Volk nicht vergisst.
Bevor die Taliban im August die Kontrolle über das ganze Land übernahmen, arbeitete Karimi an ihrem zweiten Spielfilm, dem Nachfolger ihres Sozialdramas "Hava, Maryam, Ayesha", das 2019 in Venedig Premiere feierte.
Außerdem leitete sie als erste weibliche Präsidentin die afghanische Filmorganisation, die Spielfilme, Dokumentarfilme und Kurzfilme produzierte. Langsam war die Filmindustrie im Land wieder aufgebaut worden, die unter dem ersten Taliban-Regime 1996-2001 zum Erliegen gekommen war.
Und plötzlich sei alles zu Ende gewesen, schilderte Karimi der DW am Rande des Filmfestivals: "Stellen Sie sich vor, ich war mitten in den Dreharbeiten zu meinem zweiten Film", so Karimi über den 15. August - dem Tag, als die Taliban in Kabul einmarschierten. "Es war ein normaler, gewöhnlicher Tag. Alles war normal. Und dann, innerhalb von ein paar Stunden, brach alles zusammen."
Eine schwierige Reise
Karimi flüchtete durch die Straßen von Kabul, versuchte nach Hause zu gelangen, um ihre Familie zu holen und ins sichere Flugzeug zu bringen. Die Flucht drohte bereits am Flughafen von Kabul zu enden, weil ihr Flug gestrichen wurde. In letzter Sekunde kam ihr zugute, dass sie die slowakische Staatsbürgerschaft besitzt: Mit Hilfe der slowakischen, türkischen und ukrainischen Regierung konnte sie am 17. August mit einer türkischen Fluggesellschaft von Kabul nach Istanbul ausreisen und dann weiter nach Kiew fliegen .
Diese schwierige Reise möchte Karimi nun auf Leinwand bannen: "Ich bin Filmemacherin", sagt sie, "der einzige Weg, das Fluchttrauma zumindest für eine Weile zu vergessen, ist, sich dem zu stellen und einen Film daraus zu machen." Sie hofft, dass ihre Geschichte einen anderen Blickwinkel auf die Ereignisse wirft, die wir nur von den Bildern aus den Nachrichten kennen.
"Ich habe die Verzweiflung der Menschen gesehen"
"Die Leute haben ja nur die Menschenmengen gesehen. Doch in diesem Menschenmassen waren so viele Einzelschicksale. Geschichten, die ich selbst gesehen und erlebt habe", erzählt Karimi. "Die falsche Reaktion der US_amerikanischen Armee, die Verzweiflung der Menschen, die sich an die Flugzeuge klammerten, als sie versuchten abzuheben. Ich werde ihre Geschichten erzählen. Mein Film wird das Geschehen von verschiedenen Seiten beleuchten."
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Die Macht der internationalen Filmcommunity
Sahraa Karimi will in Venedig nicht nur ihre Geschichte erzählen. Sie bittet internationale Filmorganisationen, darunter die Europäische Filmakademie, Druck auf ihre jeweiligen Regierungen auszuüben. Sie sollen humanitäre Korridore einrichten, um Künstlern und anderen Ausreisewilligen zu ermöglichen, ihr Land zu verlassen - und ihnen den Status eines politischen Flüchtlings zuerkennen. so ihr Wunsch.
10 Filme über Afghanistan
Die turbulente Geschichte des Landes diente schon als Hintergrund für viele internationale Filme wie "Der Drachenläufer" oder "Kandahar". Hier eine Auswahl.
Bild: Mary Evans Picture Library/picture alliance
Hava, Maryam, Ayesha (2019)
Der jüngste Film der afghanischen Regisseurin Sahraa Karimi hatte bei den Filmfestspielen in Venedig 2019 Premiere. Er erzählt die Geschichte von drei schwangeren Frauen in Kabul. Karimi hatte erst kürzlich einen offenen Brief an die Welt geschickt, in dem sie vor den Taliban warnte - kurz bevor Kabul eingenommen wurde. Inzwischen ist sie aus Afghanistan geflohen und in Kiew untergekommen.
Bild: http://hava.nooripictures.com
Osama (2003)
Unter dem ersten Taliban-Regime (1996-2001) durften Frauen nicht arbeiten. Eine existentielle Bedrohung für alle Familien, deren Männer im Krieg getötet oder verletzt worden waren. In "Osama" verkleidet sich ein junges Mädchen als Junge, um seine Familie zu unterstützen. Es war der erste Film, der seit 1996 in Afghanistan gedreht wurde, da das Filmemachen unter den Taliban verboten war.
Bild: United Archives/picture alliance
Der Brotverdiener (2017)
Das preisgekrönte irische Studio "Cartoon Saloon" hat einen Animationsfilm mit einer ähnlichen Geschichte geschaffen: "Der Brotverdiener" nach dem Bestseller-Roman von Deborah Ellis handelt von der elfjährigen Parvana, die das Aussehen eines Jungen annimmt, um ihrer Familie zu helfen. Der Film wurde von Angelina Jolie produziert und war als bester Animationsfilm für den Oscar nominiert.
Die Verfilmung des Bestseller-Romans von Khaled Hosseini behandelt Themen wie Schuld und Erlösung. Die Geschichte ist im turbulenten letzten halben Jahrhundert Afghanistans verankert: vom Sturz der Monarchie, der sowjetischen Militärintervention, dem Massenexodus afghanischer Flüchtlinge bis zum Taliban-Regime. Regie führte der deutsch-schweizerische Filmemacher Marc Forster.
Bild: Mary Evans Picture Library/picture-alliance
Kandahar (2001)
Der Film des iranischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf erzählt die Geschichte einer afghanisch-kanadischen Frau, die in ihre Heimat zurückkehrt, um den Selbstmord ihrer Schwester zu verhindern. Als "Kandahar" 2001 in Cannes uraufgeführt wurde, fand er keine große Beachtung. Doch dann kamen die Anschläge vom 11. September, und die Welt wollte mehr über die Lage der Frauen in Afghanistan erfahren.
Bild: Mary Evans Arichive/imago images
Fünf Uhr am Nachmittag (2003)
Zwei Jahre später stellte Makhmalbafs Tochter Samira, ebenfalls eine führende Regisseurin der iranischen "Neuen Welle", in Cannes einen weiteren Film über afghanische Frauen vor. "Fünf Uhr am Nachmittag" erzählt die Geschichte einer jungen Frau im kriegsgebeutelten Kabul: Nachdem die Taliban besiegt sind, versucht sie, eine Ausbildung zu erhalten - und träumt sogar davon, Präsidentin zu werden.
Bild: Mary Evans Picture Library/picture alliance
In This World - Aufbruch ins Ungewisse (2002)
"In This World" zeigt zwei junge afghanische Flüchtlinge auf ihrem beschwerlichen Weg von einem Flüchtlingslager in Pakistan nach London. Regisseur Michael Winterbottom drehte das Drama im Dokumentarstil mit Laiendarstellern. Der Film gewann bei der Berlinale 2003 den Goldenen Bären und den BAFTA-Preis für den besten nicht-englischsprachigen Film.
Bild: Mary Evans Picture Library/picture-alliance
Lone Survivor (2013)
Der US-amerikanische Kriegsfilm basiert auf einem Tatsachenbericht des US-Soldaten Marcus Luttrell. Bei der "Operation Red Wings" nahm ein vierköpfiges Team 2005 in der afghanischen Provinz Kunar eine Gruppe von Taliban-Kämpfern ins Visier. Luttrell, gespielt von Mark Wahlberg, überlebte als einziger einen Hinterhalt; auch ein Hubschrauber, der zu Hilfe geschickt wurde, wurde abgeschossen.
Bild: Gregory E. Peters/SquareOne/Universum Film/dpa/picture alliance
'Rambo III' (1988)
Der dritte Teil der Rambo-Filmreihe mit Sylvester Stallone in der Titelrolle spielt während des sowjetisch-afghanischen Krieges. Rambo begibt sich nach Afghanistan, um seinen ehemaligen Kommandanten vor der Sowjetarmee zu retten. Angeblich soll der Film bei Erscheinen den "mutigen Mudschaheddin" gewidmet gewesen sein, die ebenfalls gegen die Sowjets kämpften - für Filmexperten ein reiner Mythos.
Bild: United Archives/IFTN/picture alliance
Der Krieg des Charlie Wilson (2007)
Der US-Kongressabgeordnete Charlie Wilson fädelt in den 1980er-Jahren ein geheimes Finanzierungsprogramm für die afghanischen Mudschaheddin ein. Damit sollen Waffen für die damals noch als Helden geltenden Krieger im Widerstandskampf gegen die Sowjets bezahlt werden. Die auf wahren Tatsachen beruhende Politsatire mit Tom Hanks war die letzte Regiearbeit von US-Regisseur Mike Nichols.
Bild: Mary Evans Picture Library/picture-alliance
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"Die internationale Filmcommunity weiß nicht, welche Macht sie hat", sagt Karimi. "Die Menschen lieben Schauspieler und Schauspielerinnen und Filmemacher. Die Menschen lieben das Kino. Wenn sich die Filmcommunity entscheidet, eine Stimme für Afghanistan zu sein und Afghanistan zu schützen - afghanische Frauen, afghanische Filmemacher - dann wird es funktionieren."
Keine Angst vor Menschen aus Afghanistan
Karimi lobt Länder wie die Ukraine, die geflüchteten Afghanen Visa und Reisedokumente ausgestellt haben. Sie verweist aber auch auf andere europäische Länder, darunter Deutschland, die sich zurückhaltender zeigten. "Was in Afghanistan passiert ist, ist passiert. Es gibt zahlreiche Flüchtlinge - nicht nur Filmschaffende und Künstler. Deutschland sollte sich solidarisch mit diesen Menschen erklären."
Kultur- und Filmschaffende sollten nicht weiter ignoriert werden, fordert sie, außerdem solle man keine Ressentiments gegen sie haben. "Künstler und Filmschaffende können sich sehr leicht in eine Gesellschaft integrieren. Sie bringen ihre Geschichten und ihre Kreativität mit, die die Kultur ihres neuen Heimatlandes bereichern können."