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Wallraff: "Nobelpreis für Rushdie ist überfällig!"

Torsten Landsberg
16. August 2022

Mit Gewalttaten wie dem Angriff auf Salman Rushdie wollen Aggressoren Kritiker einschüchtern und mundtot machen. Das neu entflammte Interesse an Rushdies Werken wirft die Frage auf: Erreichen sie das Gegenteil?

Salman Rushdie im Anzug und mit verschränkten Armen.
Salman Rushdie im Jahr 2012 in TorontoBild: Chris Young/empics/picture alliance

Terror und Gewalt verfolgen das Ziel, Menschen einzuschüchtern und Kritik verstummen zu lassen. Sie führen der Welt vor Augen, was jenen passieren kann, die sich frei und kritisch äußern - womöglich mit der Folge, dass sich Oppositionelle, kritische Journalistinnen und Journalisten oder Künstlerinnen und Künstler selbst zensieren. Eine Tat wie der Angriff auf den Schriftsteller Salman Rushdie zielt neben der Personen vor allem auf Freiheit und die liberale Gesellschaft ab. Im Mai sagte Rushdie anlässlich der Woche der Meinungsfreiheit: "Meinungsfreiheit ist die Freiheit, von der alle anderen Freiheiten abhängen."

Zur Erschütterung und Fassungslosigkeit über Gewaltakte mischt sich bald auch Trotz: Die freie Welt will sich den Aggressoren nicht beugen, nicht diktieren lassen, wie sie zu leben und zu denken hat. So war es nach dem Anschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitung "Charlie Hebdo" 2015, so war es nach der russischen Invasion in die Ukraine, deren Bevölkerung seither geeinter ist als jemals zuvor.

Wer ist Charlie?

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Rushdies umstrittenes Buch "Die satanischen Verse", immerhin schon 1988 erschienen, lässt sich durch einen Angriff mit dem Ziel, den Autor zu töten, nicht ungeschehen machen, was den Irrsinn der Tat untermauert. Im Gegenteil, beschert der Angriff dem Werk nun nach mehr als drei Jahrzehnten eine neue Aufmerksamkeit. Nach dem Attentat führten "Die satanischen Verse" beim Online-Händler Amazon die Verkaufsränge an.

"Es ist die beste Gegenwehr, Rushdie zu lesen und den Literaten hinter der politischen Figur freizulegen", sagt Cornelia Zetzsche, Vizepräsidentin des PEN Zentrums Deutschland, im DW-Gespräch. Aber die Gefahr für Verfolgte bleibe auch dann bestehen, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit wieder nachlasse.

"Die satanischen Verse" handelt von zwei indischen Schauspielern, die einen Flugzeugabsturz überleben. Der eine wird zum Erzengel, der andere ähnelt dem Teufel. Der Titel des Romans bezieht sich auf zwei Verse, die dem Propheten Mohammed angeblich von Satan eingeflüstert worden sind. Ohne Kenntnisse der Korangeschichte sind Rushdies Anspielungen kaum zu verstehen.

Der iranische Revolutionsführer Ajatollah Chomeini hatte im Februar 1989, ein halbes Jahr nach Erscheinen des Buches, wegen angeblicher Gotteslästerung mit einem islamischen Rechtsgutachten, einer Fatwa, alle Muslime zur Tötung des britisch-indischen Schriftstellers aufgerufen.

Cornelia Zetzsche, Vizepräsidentin des deutschen PEN ZentrumsBild: PEN-Zentrum Deutschland

Der japanische Übersetzer wurde ermordet

Auf Rushdie wurde ein Kopfgeld ausgesetzt, das über die Jahre durch staatsnahe Stiftungen, private Spender und Staatsmedien auf rund vier Millionen Dollar anwuchs. Auch auf Übersetzer des Buches waren in der Vergangenheit Anschläge verübt worden.

Der japanische Übersetzer, der Islam-Wissenschaftler Hitoshi Igarashi, war 1991 von einem unbekannten Täter ermordet worden. Wer die deutsche Fassung übersetzt hat, blieb unter Verschluss. Rushdie lebte jahrelang unter Personenschutz an unbekannten Orten.

"Die Fatwa teilte sein Leben in ein Davor und ein Danach, wie es wohl auch das Attentat tun wird", sagt Cornelia Zetzsche. Niemand habe damit gerechnet, dass Rushdie nach so vielen Jahren noch zum Opfer solch einer Tat werden würde. "Er hat 20 Jahre vergleichsweise frei und offen gelebt. Es ist schwer vorstellbar, dass er zu dieser Offenheit noch einmal zurückkehren kann."

Auch Rushdies Sohn Zafar bezeichnete die Verletzungen seines Vaters vor ein paar Tagen auf Twitter als "lebensverändernd", schrieb aber auch: "Sein gewohnt kämpferischer und trotziger Sinn für Humor bleibt intakt." Cornelia Zetzsche, die Rushdie seit mehr als 30 Jahren kennt, sagt: "Salman Rushdie ist einer der sprachmächtigsten Autoren, ich schätze seine Lässigkeit, seinen Humor und seine Selbstironie ungemein." 

1993 lud Günter Wallraff (Mitte) Salman Rushdie (rechts) und den türkischen Schriftsteller Aziz Nesin nach Köln einBild: Günther Zint/Panfoto/picture-alliance/dpa

"Er trat stets unbekümmert auf"

Auch der Journalist und Autor Günter Wallraff kennt Rushdie seit Jahrzehnten, er nahm den Schriftsteller 1993 in seinem Haus in Köln auf. Er habe Rushdie zuletzt vor einigen Jahren in Dänemark getroffen, sagt Wallraff der DW. "Er trat stets unbekümmert auf, sein Umfeld legte aber Wert auf einen guten Schutz." Seit einigen Jahren lebt Rushdie in New York, wo er sich weitgehend frei bewegte und nach eigenem Bekunden sicher fühlte.

Er habe nach so vielen Jahren nicht mehr mit einem Attentat auf Rushdie gerechnet, sagt Wallraff. "Dass der Attentäter sich nicht-schuldig bekennt, ist bezeichnend." Im Auftrag des Gottesstaates fühle sich der Täter im Recht. Wallraff erkennt in den weltweiten Reaktionen auf den Angriff, "dass es eine breite demokratische Gegenöffentlichkeit gibt, die für die Freiheit einsteht und durch diese Tat eher noch gestärkt wird".

Nobelpreis als überfälliges Signal?

Die Signalwirkung von Solidaritätsbekundungen sei ohnehin nicht zu unterschätzen, glaubt Cornelia Zetzsche: "Was verfolgten Autorinnen und Autoren psychologisch hilft, ist das Wissen, nicht vergessen zu sein." Der PEN Deutschland kündigte gerade an, Rushdie zum Ehrenmitglied zu machen, außerdem plant die internationale Schriftstellervereinigung digitale und weltweite Lesungen der "Satanischen Verse" - wie schon 1989, nach dem Inkrafttreten der Fatwa, damals noch analog.

"Der Literaturnobelpreis für Rushdie ist überfällig!", sagt Günter Wallraff. Eigentlich hätte Rushdie den schon erhalten müssen, als Chomeini seinen Tod befahl, meint er, aber viele Institutionen, darunter auch die Schwedische Akademie, hätten aus Gründen der politischen Rücksichtnahme und wirtschaftlichen Interessen gegenüber Iran gezögert.

Nun sei es an der Zeit, mit der Auszeichnung ein Zeichen zu setzen, betont Wallraff, der seinen Vorschlag für den Friedensnobelpreis direkt ergänzt: "Julian Assange und Alexej Nawalny!"

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