Salman Rushdie hat in seinem neuen Roman den Klassiker "Don Quijote" ins heutige Amerika übertragen. Ein fantastischer Roman über eine Welt in der Krise.
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Held dieses Romans mit dem Titel "Quichotte" ist Ismail Smile, ein indischer Einwanderer, der seit Jahren als Handelsvertreter von Arzneimitteln durch die USA reist. Sein Zuhause sind billige Hotelzimmer, seine Welt die TV-Serien und -Shows, die er allabendlich konsumiert. Nach einem Herzinfarkt verliert er mehr und mehr den Bezug zur Realität und flüchtet sich in eine Traumwelt. Eine Folge davon ist die überwältigende Liebe, die er für eine Unbekannte empfindet: Salma R. kommt wie er aus Indien, lebt in New York und ist eine echte Berühmtheit mit eigener TV-Show: Oprah 2.0. Als Ismail Smile von seinem Cousin und Boss in Rente geschickt wird, ist er endlich frei, sich mit Salma R. zu vereinen. Er steigt in seinen alten Wagen, nennt sich fortan Quichotte, und imaginiert sich als Reisebegleiter den so lang ersehnten Sohn namens Sancho - noch ein Zitat aus der literarischen Vorlage von Miguel de Cervantes.
Es gibt eine zweite Ebene im Buch
Die Reise ist ein Trip durch ein düsteres Amerika. Die beiden erleben Rassismus und Gewalt, werden konfrontiert mit Populismus, Fake News, der Opioidkrise - aktueller geht es kaum. Der Name Donald Trump fällt kein einziges Mal, aber im Buch gibt es einen "starrköpfigen Präsidenten (…) der von Cable News besessen war, der der Basis weißer Rassisten schmeichelte, der (…) Umkleide-Scheiß über Frauen gequatscht hatte."
Was ist real? Was ist erfunden? In diesem Roman finden Sie keine Antworten.
Und dann gibt es auch noch eine zweite Ebene im Buch, ein Buch im Buch, denn "Quichotte" ist die Erfindung eines indisch-amerikanischen Schriftstellers namens Sam DuChamp, der mit diesem Roman seinen großen Durchbruch erleben will, nachdem er jahrelang mittelmäßige Spionagekrimis verfasst hat. Mit seinem Helden teilt er das Alter, die Herkunft und die Sehnsucht, dazuzugehören in einer Welt, in der er sich nirgendwo zuhause fühlt. Über allem steht immer wieder die Frage nach Identität. Wie sehen wir die Welt - und wie nimmt sie uns wahr?
Ein Überblick über Salman Rushdies Werk
Sein erster Roman floppte, der zweite machte ihn berühmt, der vierte brachte ihm Todesdrohungen ein. "Die satanischen Verse" sind weltbekannt. Doch Salman Rushdie auf diesen Roman zu reduzieren, würde ihm nicht gerecht.
Bild: KHARBINE-TAPABOR/imago images
"Victory City" (2022)
In seinem 15. Buch, einer märchenhaften Allegorie, erzählt Rushdie die Geschichte des indischen Waisenmädchens Pampa Kampana im 14. Jahrhundert. Sie erhält von einer Göttin übernatürliche Kräfte und lässt aus einer Handvoll Samenkörner die "Stadt des Sieges" entstehen. All ihr Handeln beruht auf der großen Aufgabe, den Frauen in einer patriarchalen Welt eine gleichberechtigte Rolle zu geben.
Bild: Cindy Ord/Getty Images for PEN America
"Quichotte" (2019)
Salman Rushdies "Quichotte" modernisiert Cervantes' Klassiker und verlegt die Suche eines alternden Reisenden in die heutige USA. Er spielt mit Fakten und Fiktion, erzählt von Alltagsrassismus und der Opioid-Krise - und driftet zugleich ins Surreale ab. Der Roman war für den renommierten Booker Prize 2019 nominiert.
Bild: Tolga Akmen/AFP via Getty Images
"Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte" (2015)
Die Anzahl der Tage im Titel dieses Buches bezieht sich auf Scheherazades Erzählungen von "Tausendundeiner Nacht". Auch Rushdies Roman bietet mindestens so viele Geschichten. Im Jahr der Buchveröffentlichung lud ihn die Frankfurter Buchmesse als Hauptredner ein. Wegen seiner Teilnahme rief der Iran zum Boykott der Veranstaltung auf.
Bild: Maxppp Awaad/dpa//picture-alliance
"Joseph Anton" (2012)
Neun Jahre verbrachte Rushdie im Untergrund. Dort legte er sich das Pseudonym Joseph Anton zu - zu Ehren seiner Lieblingsschriftsteller Joseph Conrad und Anton Tschechow. In dieser Zeit ließ er sich von seiner zweiten Frau scheiden und ging zwei weitere Ehen ein, die beide nach ein paar Jahren wieder zerbrachen. Von diesem Lebensabschnitt erzählt Rushdie in seiner Autobiografie "Joseph Anton".
Bild: PA Stillwel/dpa/picture-alliance
"Luka und das Lebensfeuer" (2010)
Rushdie hat auch zwei Kinderbücher geschrieben. Das Märchen "Harun und das Meer der Geschichten" (1990) kreist um Themen wie Zensur und Meinungsfreiheit. "Luka und das Lebensfeuer" ist ein Fantasy-Roman, in dem ein Junge seinen Vater - einem Geschichtenerzähler - das Leben retten muss.
Bild: Michael Weber/imagebroker/picture-alliance
"Der Boden unter ihren Füßen" (1999)
Postkoloniale Kultur und magischer Realismus sind Rushdies Markenzeichen. Weitere Zutaten seiner Werke: unzählige Referenzen aus Weltgeschehen, Literatur und Pop. Daraus formte er so unterschiedliche Werke wie die Familiensaga "Des Mauren letzter Seufzer" (1995) oder "Der Boden unter ihren Füßen", eine alternative Geschichte der Rockmusik. Die Rockband U2 verwendete den Titel später in einem Song.
"Die satanischen Verse" veränderten das Leben des Schriftstellers grundlegend. Radikale Muslime empfanden den Roman als Gotteslästerung. 1989 verurteilte der iranische Staatschef Ayatollah Khomeini den Autor zum Tode. Viele Jahre lebte Rushdie daraufhin im Untergrund. Die so genannte Fatwa wurde bis heute nicht offiziell aufgehoben. Unser Bild zeigt Proteste gegen das Buch in Kuala Lumpur 2007.
Bild: Shamshahrin Shamsudin/dpa/picture-alliance
"Mitternachtskinder" (1981)
Rushdies erster Roman "Grimus" (1975) fand kaum Beachtung. Doch schon der zweite machte den britisch-indischen Autor zum internationalen Literatur-Star: "Mitternachtskinder" ist eine Allegorie auf die Unabhängigkeit Indiens. Das Buch wurde mit dem Booker Prize ausgezeichnet und gut 20 Jahre nach der Erstveröffentlichung von der indisch-kanadischen Regisseurin Deepa Mehta verfilmt.
Bild: Concorde Filmverleih/dpa//picture-alliance
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Eine amüsante Lektüre, überbordend von der wilden Fantasie Rushdies
"Quichotte" ist ein typischer Rushdie: magisch, witzig, voller Sprünge in Zeit und Raum, zwischen Realität und Illusion. Mit vielen Bezügen zu der Welt, in der wir gegenwärtig leben. Ein Roman mit endlos vielen Zitaten aus der amerikanischen Popkultur, Verweisen auf die Weltliteratur, auf reale Ereignisse. Aber: die endlosen Aufzählungen von Fernsehsendungen, Celebrities, von Marken und Phänomenen haben auch etwas Ermüdendes. Da wird der Roman zum Symptom einer Welt, die er doch eigentlich kritisieren will. Und nicht nur das: Rushdie traut dem Leser nicht zu, selbst die Verbindungen zum tatsächlichen Leben herzustellen, und erklärt uns auch das.
Am besten ist der Roman dann, wenn es um Leben und Tod geht, um Gefühle. Und da diese Themen einen großen Raum einnehmen, ist "Quichotte" allein deshalb über weite Strecken eine amüsante Lektüre, überbordend von der wilden Fantasie seines Autors.
"Quichotte" ist Rushdies 14. Roman und stand auf der Shortlist für den renommierten Man Booker Prize. Das Buch erschien im August in Großbritannien, im September in den USA und ist jetzt auf Deutsch erhältlich.
Salman Rushdie wurde 1947 in Mumbai als Sohn einer muslimischen Familie geboren. Weltruhm erlangte er mit seinem 1981 erschienenen Roman "Mitternachtskinder" und mit den 1988 veröffentlichten "Satanischen Versen". Irans Staatschef Chomeini verhängte eine Fatwa, ein Todesurteil über den Schriftsteller, der danach viele Jahre im Untergrund lebte. Das Urteil ist bis heute nicht aufgehoben.