Saporischschja: Akute Stromnot im größten AKW Europas
3. Oktober 2025
Seit Jahren ist das Atomkraftwerk Saporischschja für halb Europa eine Gefahr – und in diesen Tagen spitzt sich die Lage erneut dramatisch zu. Nach anhaltenden Kämpfen ist Europas größte Nuklearanlage seit mehr als einer Woche ohne reguläre Stromversorgung – eine noch nie dagewesene Situation. Die Kühlung der Brennstäbe hängt allein von den Diesel-Notstromgeneratoren ab. Nicht nur die Bewohner im Umkreis, sondern weite Teile des Kontinents blicken mit wachsender Sorge auf die Anlage.
Denn diese Notlösung ist riskant: Die Generatoren sind nicht für einen Dauerbetrieb gebaut. Die Spritvorräte reichen für etwa zehn Tage und Nachschub ist durch den Krieg akut gefährdet.
Das AKW Saporischschja befindet sich weiterhin unter der Kontrolle russischer Besatzungstruppen und einer von Moskau eingesetzten Werksleitung. Russische Streitkräfte hatten die Anlage kurz nach Beginn des Angriffskriegs im Frühjahr 2022 besetzt und halten sie seitdem.
Auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zeigt sich besorgt: "Das Kraftwerk kommt derzeit dank seiner Notstromdieselgeneratoren – der letzten Verteidigungslinie – zurecht und es besteht keine unmittelbare Gefahr, solange diese weiterlaufen. Dennoch handelt es sich im Hinblick auf die nukleare Sicherheit eindeutig nicht um eine nachhaltige Situation. Von einem Atomunfall würde keine der beiden Seiten profitieren", sagte Generalsekretär Rafael Mariano Grossi am 30. September 2025.
Internationale Atomenergiebehörde: Möglicher Atomunfall schadet allen
Erste Aggregate sind bereits ausgefallen und müssten dringend repariert werden. Jede weitere Störung könnte fatale Folgen haben. "Es ist äußerst wichtig, dass die externe Stromversorgung wiederhergestellt wird. Ich ermutige beide Seiten nachdrücklich, mit uns zusammenzuarbeiten und diese wichtigen Reparaturen zu ermöglichen. Wie ich wiederholt betont habe, liegt ein Atomunfall in niemandes Interesse, und es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um ihn zu verhindern", sagte IAEA-Chef Grossi.
Warum die Kühlung der Brennstäbe lebenswichtig ist
Im Herzen eines jeden Atomkraftwerks arbeiten Brennstäbe, die durch Kernspaltung große Mengen Wärme erzeugen – und zwar nicht nur im Betrieb, sondern auch noch nach Abschaltung des Reaktors. Verantwortlich dafür ist die Nachzerfallswärme: radioaktive Elemente in den Brennstäben zerfallen weiter und setzen dabei Energie frei.
Um diese gefährliche Hitze sicher abzuleiten, muss das Wasser im Reaktor kontinuierlich umgewälzt werden. Bleibt die Kühlung aus, steigt die Temperatur rasch an. Ab etwa 1200 Grad Celsius schmilzt die Metallhülle der Brennstäbe, und es droht die Freisetzung radioaktiver Stoffe. Eine lückenlose Kühlung ist daher das zentrale Sicherheitsmerkmal. Selbst nach dem Herunterfahren bleiben die Brennelemente für viele Tage kühlpflichtig.
Ablauf bei Stromausfall: Dieselgeneratoren als letzte Rettung
Fällt die externe Stromversorgung aus, übernehmen Dieselgeneratoren automatisch die Versorgung der Kühlpumpen. Die meisten Kernkraftwerksblöcke sind für eine Notstromeinspeisung von maximal zehn Tagen ausgelegt – vorausgesetzt, Technik und Treibstoff sind verfügbar.
Die Generatoren laufen unter Hochlast und müssen regelmäßig mit Diesel versorgt werden. Sollte ein oder mehrere Generatoren ausfallen oder der Nachschub knapp werden, verschärft sich die Lage.
Was passiert, wenn auch die Notstromversorgung versagt?
Fällt die gesamte Notstromversorgung aus (Station Blackout), greifen Batterien und unterbrechungsfreie Stromversorgungen für wenige Stunden als letzte Reserve. Innerhalb dieses kritischen Zeitfensters wird versucht, den Reaktor durch Einschieben von Steuerstäben (SCRAM) schnellstmöglich herunterzufahren und mobile Generatoren von außen anzuschließen.
Bleibt die Kühlung weiter aus, beginnt die Temperatur im Reaktorkern und in den Brennelementbecken rasch zu steigen. Nach wenigen Stunden entstehen "Dryout"-Bereiche: Die Brennstäbe liegen teilweise trocken, Risse und Materialschäden drohen.
Dauert der Zustand an, kommt es zur Kernschmelze – das radioaktive Material zerfließt und kann ungehindert in die Umwelt austreten. Die Folge wären Evakuierungszonen und unbewohnbare Landstriche, wie die Katastrophen von Fukushima und Tschernobyl zeigen.
Krisenprotokolle im Ausnahmezustand
Im allerschlimmsten Fall, etwa wenn Komponenten oder Sicherheitsventile versagen, kann sich eine Explosion ereignen – wie 1986 in Tschernobyl. In einem Druckwasserreaktor wie Saporischschja ist das Risiko einer Kernexplosion allerdings geringer als bei anderen Reaktortypen.
Realistischer ist aber die Gefahr einer Notfall-Druckentlastungen als letztes technisches Mittel: Wird der Druck im Reaktorgebäude zu groß, werden Not-Ventile geöffnet, es kommt zu einer kontrollierten Druckentlastung, um einen Bruch des Sicherheitsbehälters zu verhindern.
Weitreichende Folgen in halb Europa
Von der Internationalen Atomenergiebehörde gibt es keine aktuellen Warnungen zu einer möglichen Explosion oder Notfall-Druckentlastung im AKW Saporischschja – sehr wohl aber klare Aussagen über die möglichen Folgen bei einem schweren Störfall.
Bei einer Notfall-Druckablassung könnten große Mengen radioaktiver Aerosole und Gase freigesetzt werden. Die Folgen wären regionale, unter Umständen aber auch grenzüberschreitende radioaktive Kontamination, Todesfälle durch Strahlenkrankheit und Langzeitfolgen wie erhöhte Krebsraten im betroffenen Gebiet.
Evakuierungen und Notfallmaßnahmen würden dann nicht nur die Bevölkerung im direkten Umkreis, sondern auch Städte und Länder Hunderte Kilometer entfernt betreffen.