1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Hilferuf über Twitter

9. Januar 2021

In Saudi-Arabien ruft eine junge Frau über Twitter um Hilfe. Weil sie sich einer Zwangsheirat verweigere, werde sie von ihren Eltern misshandelt. Der Fall beleuchtet die schwierige Situation der saudischen Frauen.

Symbolbild: Frauen in Saudi Arabien
Bild: picture-alliance/KFS

Es war ein Hilferuf zum Jahresbeginn. "Ich bin R.R.", schrieb die junge Frau auf Twitter. "Ich werde wieder und wieder geschlagen, schlecht behandelt und geschubst. Das geht seit zehn Jahren so, in dieser Zeit war ich den schlimmsten Formen von Folter, Belästigung und Beschimpfungen durch meinen Vater und meine Mutter ausgesetzt." Sie wisse nicht mehr weiter, fügte die junge Frau hinzu. "Ich denke an Selbstmord. Das scheint mir die beste Lösung zu sein. Denn ich wurde gezwungen, der Heirat mit einem sechs Jahre älteren Mann zuzustimmen."

Der Tweet von "R.R." im arabischen Original.

Die Nachricht wurde in den sozialen Medien umgehend aufgegriffen. Unter dem auf Arabisch formulierten Hashtag "Rettet Rin" drückten zahlreiche Nutzer ihre Solidarität aus. Man sei stolz auf "R.R.", denn sie sei stark. Darum müsse man das Vorgehen ihrer Familie öffentlich verurteilen, schrieb ein Nutzer. Würden Frauen misshandelt, dürfe man nicht schweigen, denn sonst würden derartige Verbrechen weiterhin begangen. 

Andere hingegen gingen auf Distanz. Ein Nutzer bekundete seine grundsätzliche Ablehnung gegenüber der Idee, Frauen könnten ein eigenständiges Leben führen. "Feministinnen belästigen uns, indem sie behaupten, Frauen seien stark und denen überlegen, die über sie herrschen." Man müsse erst feststellen, ob der Fall überhaupt wahr sein, bemerkte ein anderer.

Alle Zweifel an der Authentizität des Hilferufs klärte noch am selben Tag das staatliche "Zentrum zur Erfassung häuslicher Gewalt", das zumMinisterium für soziale Entwicklung gehört, es gehe dem Fall nach. Die Behörden seien informiert, "notwendige Maßnahmen" würden ergriffen.

Massenphänomen häusliche Gewalt

Häusliche Gewalt steht in Saudi-Arabien zwar seit 26. August 2013 unter Strafe. Kritiker bemängeln jedoch, das entsprechende Gesetz werde nicht konsequent genug umgesetzt. Einer im November 2018 veröffentlichten Studie des saudischen "Nationalen Programms für die Sicherheit der Familie" zufolge haben über ein Drittel - 35 Prozent - der saudischen Frauen mindestens einmal im Leben Erfahrungen mit körperlicher Gewalt gemacht.

Eine Umfrage des saudischen "Nationalen Zentrums zur Erforschung der Öffentlichen Meinung" ergab im Jahr 2018, dass 73 Prozent der befragten Frauen ihre Ehemänner als diejenigen ansehen, von denen die meiste Gewalt gegen Familienmitglieder ausgeht. 83 Prozent der Befragten erklärten zudem, Gewalt gegen Frauen finde hauptsächlich in der eigenen Wohnung statt.

Aufgezwungenes Rollenbild: Frauen in Saudi-ArabienBild: picture-alliance/AP Photo/K. Mohammed

Identität und Macht

Gewalt gegen Frauen findet in einem größeren ideologischen und kulturellen Kontext statt, lässt sich einem Buch der an der London School of Economics lehrenden Sozialanthropologin Madawi al-Rasheed entnehmen. Denn Frauen käme bei der Aufgabe, das Königreich nach außen und innen als religiös fundierten Staat zu präsentieren, eine zentrale - wenngleich auch passive - Rolle zu, schreibt Madawi in ihrem Buch "A most masculine State. Gender, Politics and Religion in Saudi-Arabia".

Das Verhältnis der Geschlechter gelte der von der Staatsführung verbreiteten Ideologie zufolge als Gradmesser für die konfessionelle und damit politische Identität des Landes, schreibt Al-Rasheed. Auf dieser Identität wiederum gründet der Machtanspruch der Königsfamilie. 

Jede Veränderung der Geschlechterverhältnisse bedeute darum potentiell auch eine Veränderung der politischen Strukturen. "Daher kommt die Besessenheit, mit der ihre Körper, ihr Erscheinungsbild, die Abtrennung von den Männern, ihre Reinheit und ihre Sexualität zu Signalen gemacht worden sind, die die Grenzen der Nation markieren."

Die für die Frauen vorgesehene Rolle bestand darin, den Männern und insbesondere den Religionsgelehrten zu gehorchen. Dieses Bild der passiven, unterlegenen Frau setzte sich über Jahrzehnte durch und erleichterte indirekt auch Gewalt gegenüber Frauen.

Erinnerung an früheren Fall

Unter den Folgen dieser Ideologie könnte auch "R.R." gelitten haben. Ihr Fall erinnert an jenen von Rahaf Mohammed Alqunun. Die damals 18 Jahre junge Frau war Anfang 2019 über Thailand nach Kanada geflohen, weil sie ihren Angaben zufolge fortgesetzte Misshandlungen durch ihre Familie fürchtete. Nachdem sie sich gegen eine Zwangsheirat gewehrt hatte, wurde sie ein halbes Jahr lang zuhause eingesperrt. Auch soll sie sich in dieser Zeit vom Islam losgesagt haben. Im saudischen Königreich kann diese Entscheidung die Todesstrafe nach sich ziehen.

Exil in Kanada: Rahaf Mohammed AlqununBild: Reuters/M. Blinch

Zuletzt hat das Königreich allerdings einige Schritte in Richtung größerer Freiheitsrechte für Frauen getan. Dazu gehört auch eine Reihe von Maßnahmen gegen häusliche Gewalt. Nach dem 2013 erlassenen Gesetz, das diese unter Strafe stellt, trat 2018 ein Gesetz in Kraft, das auch Belästigung als illegal definiert.

Überführte Täter können zu einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren verurteilt werden. Im Jahr 2019 wurde zudem eine ausschließlich von weiblichen Angestellten betriebene telefonische Hotline eingerichtet, an die sich Frauen 24 Stunden im Fall häuslicher Gewalt wenden können. Auch Belästigungen können unter einer national einheitlichen Nummer jederzeit gemeldet werden.

Vormundschaft gelockert

Im Sommer 2019 wurde zudem das sogenannte Vormundschaftsgesetz gelockert, das Frauen grundlegende Rechte wie Reisefreiheit oder den selbständigen Antrag auf einen Reisepass verweigerte. Dieses Gesetz hatte den Männern eine Verfügungsmacht über die Frauen gesichert, die diese oft vollkommen abhängig von ihnen machte.

Verurteilt auf fragwürdiger Basis: die Frauenrechtlerin Ludschain al-HathlulBild: FACEBOOK ACCOUNT OF SAUDI ACTIVIST LOUJAIN AL-HATHLOUL/AFP

Wie rigide die saudische Staatsführung im Zweifel aber weiterhin gegen Bürgerinnen des Königreichs vorgeht, zeigte sich Ende Dezember. Wenige Tages vor dem Jahreswechsel wurde die saudische Bürgerrechtlerin Ludschain al-Hathlul zu einer knapp sechsjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die Hälfte davon auf Bewährung. Al Hathul hatte sich für das Recht der Frauen eingesetzt, selbst Auto zu fahren.

Dieses Recht ist inzwischen umgesetzt. Doch die Staatsführung nahm al-Hathlul offenbar ihren unerschrockenen Einsatz für dieses Recht übel. So beschuldigten die Behörden die Aktivistin, sie habe das Herrschaftssystem des Landes kippen wollen.

Das Urteil zeigt, wie genau die Staatsführung auf das öffentliche Frauenbild achtet. Ändert sich dieses, so offenbar die Sorge, ändert sich auch das gesamte gesellschaftliche Gefüge - mit unabsehbaren Konsequenzen für den Herrschaftsanspruch der Königsfamilie.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen