Eigentlich wollte Saudi-Arabien seine Wirtschaft umbauen und in ehrgeizige Projekte von morgen investieren. Aber jetzt greift Corona um sich, der Ölpreis ist abgesackt und das Land muss sparen.
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Von Regen aus künstlichen Wolken war die Rede, von fliegenden Taxis und Roboter-Dienstmädchen. Von Stränden, die nachts leuchten und der höchsten Dichte an Sterne-Restaurants pro Einwohner weltweit. Mit der Zukunftsstadt "Neom" strebt Saudi-Arabiennach eigener Aussage nicht weniger an als "das ehrgeizigste Projekt der Welt", eine futuristische Mega-City in der Wüste, dreißig Mal so groß wie Berlin. Geschätzte Kosten: 500 Milliarden US-Dollar.
Aber die kolossalen Pläne könnten nicht nur buchstäblich auf Sand gebaut sein. Saudi-Arabien erlebt durch den sehr niedrigen Ölpreis und die Corona-Pandemie derzeit eine Krise an zwei Fronten: Mehr als 89.000 Menschen haben sich mit dem Virus infiziert. Weil Flugzeuge am Boden blieben und der Warenverkehr im Notbetrieb lief, sank auch die Nachfrage nach Rohöl wegen Corona deutlich - dem Rohstoff also, der den Wüstenstaat zu einem der reichsten Länder der Welt machte.
Ausgeglichener Haushalt nicht in Sicht
Für einen ausgeglichenen Haushalt benötigt Saudi-Arabien nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) eigentlich einen Ölpreis von etwa 80 US-Dollar pro Barrel. Im April war der Preis für US-Öl aber teils unter die Marke von 11 Dollar gesackt und sogar in den Negativbereich gerutscht. Zu Wochenbeginn lag der Preis für Rohöl der Organisation erdölexportierender Länder (Opec) zwar bei 33,68 US-Dollar je Barrel (159 Liter) - immerhin 4,67 Dollar mehr als am vergangenen Freitag. Im laufenden Jahr aber werde die Öl-Nachfrage erstmals seit der Rezession von 2009 schrumpfen, sagte die Internationale Energieagentur (IEA) in ihrem Jahresbericht im März voraus.
Die Regierung in Riad will gegensteuern und das Haushaltsloch stopfen. Mitte Mai kündigte sie an, die Mehrwertsteuer ab Juli von fünf auf 15 Prozent zu verdreifachen und die Staatsausgaben um umgerechnet 26,6 Milliarden Dollar zu senken. Die monatlichen Zuschüsse zu Lebenshaltungskosten von Beamten werden ab Juni ausgesetzt. Projekte im Rahmen der "Vision 2030", darunter auch die glitzernde Zukunftsstadt "Neom", sollen gestrichen oder aufgeschoben werden.
Umbau der Wirtschaft
Unter der "Vision 2030" will Saudi-Arabien seine Wirtschaft umbauen und sich unabhängiger vom Öl machen. In der aktuellen Lage sei dies aber unmöglich, sagt Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Die Ziele dieses Entwicklungsplans waren schon vor der Corona-Pandemie überambitioniert." Die gezielten Investitionen im Land seien bisher kaum erfolgreich gewesen, sagt Roll.
Zugleich will die Regierung einen Teil des Ölreichtums gewinnbringend in ausländischen Unternehmen anlegen. Die "Financial Times" berichtete kürzlich vom "Großeinkauf", bei dem der Staatsfonds PIF unter anderem in den Internetkonzern Facebook, den Flugzeughersteller Boeing und in Touristik-Unternehmen investierte. Zusätzlich leitete Saudi-Arabien ein Konsortium, das Berichten zufolge den Kauf des englischen Fußballclubs Newcastle United zusagte.
Staatsfonds mit gemischter Bilanz
Auch der PIF habe bisher eine "sehr gemischte Bilanz" vorzuweisen, sagt Nahost-Forscher Roll. So sei etwa eine 45 Milliarden US-Dollar schwere Investition in einen Technologie-Investitionsfonds der japanischen Soft-Bank Group erfolglos verlaufen. Der PIF dient aber auch dazu, langfristig die Macht von Kronprinz Bin Salman zu festigen, der den Staatsfonds faktisch selbst kontrolliert.
Die Bevölkerung in dem Land mit 35 Millionen Einwohnern muss sich auf Einschnitte vorbereiten. "Es gibt die Einsicht, dass die Zukunft anders aussehen wird. Die Durchschnittsgehälter werden niedriger sein. Junge Menschen werden nicht auf die Weise leben, wie ihre Eltern es taten", schreibt Karen Young vom American Enterprise Institute in Washington. Das sei für viele hinnehmbar, wenn sie im Gegenzug mehr Freiheiten erhielten. In dem erzkonservativen Staat sind inzwischen Konzerte, Festivals und Besuche im Kino erlaubt. "Einige der Schritte werden wehtun, aber sie sind zum Wohl aller", sagte Finanzministers Mohammed al-Dschadan dem Nachrichtenkanal "Al-Arabija" Anfang Mai.
Wallfahrt Hadsch als Wirtschaftsfaktor
Wehtun würde auch, wenn wegen Corona die große Wallfahrt Hadsch abgesagt würde. 2019 nahmen fast 2,5 Millionen Menschen teil, darunter 1,8 Millionen Pilger aus dem Ausland. Nach dem Öl zählen die Hadsch und die kleine Wallfahrt (Umrah) nach Mekka und Medina zu den wichtigsten staatlichen Einnahmequellen.
Rund um die Wallfahrt hat sich seit dem 18. Jahrhundert eine stetig wachsende Industrie entwickelt. Es gibt Reisebüros, die sich um die Organisation der Pilgerreise kümmern. So genannte Hadsch-Führer leiten Gruppen vor Ort durch die Rituale und kümmern sich um Essen und Unterkunft. Die Zeitung "Arab News" - das englischsprachige Sprachrohr des Königreichs - hatte 2017 unter Berufung auf Ökonomen berichtet, dass die Einnahmen aus Hadsch und Umrah bis 2022 auf mehr als 150 Milliarden Dollar steigen würden.
"Vision 2030" gefährdet
Vielleicht muss die "Vision 2030" kleiner ausfallen als geplant. Bei Plänen für die futuristische Stadt "Neom" fühlen sich einige erinnert an King Abdullah City, Teil eines 2005 angekündigten Bauprojekts aus mehreren Städten, das Investoren locken und 1,3 Millionen Jobs schaffen sollte. Nur eine der eigentlich sechs geplanten Städte wurden tatsächlich gebaut. Angelegt war King Abdullah City für zwei Millionen Einwohner. Heute leben dort etwa 10.000 Menschen.
Saudi Arabien: Gnadenlos beim Umgang mit Kritikern
Saudi-Arabien hat die Welt mit einer Reform seines Strafrechts überrascht. Das Auspeitschen und die Todesstrafen für Minderjährige wurden abgeschafft. Doch für viele inhaftierte Aktivisten bedeutet das keine Entwarnung.
Bild: Getty Images/M. Ingram
Keine Todesstrafe mehr für Minderjährige
In einem ersten Schritt wurde das Auspeitschen in Saudi-Arabien abgeschafft und nur wenige Stunden später auch die Todesstrafe für Minderjährige. Eine Tat, die vor dem vollendeten achtzehnten Lebensjahr begangen wurde, darf per königlichem Dekret fortan mit maximal zehn Jahren Haft bestraft werden. Das Dekret helfe, ein moderneres Strafgesetz zu schaffen, hieß es.
Bild: picture-alliance/AP Photo/A. Nabil
Schlechtes Image seit Ermordung Khashoggis
Menschenrechtler und Experten blicken entsprechend zurückhaltend auf die Neuerungen. Sie seien zwar richtig, aber nicht mit einer Liberalisierung des Landes zu verwechseln, so Guido Steinberg von der SWP-Berlin: "Das ist ein Versuch, die eigene Reputation aufzupolieren." Das Image von Kronprinz Mohammed bin Salman (MbS) sei immer noch durch den Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi ramponiert.
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PR, um sich im Westen beliebt zu machen
Saudi-Arabien sei besonders um seine Reputation in den USA und in der westlichen Welt besorgt, sagt Steinberg. Doch der Kronprinz fahre weiterhin einen sehr autoritären Kurs. Die Reformen, die MbS seit Amtsantritt durchgesetzt hat, gehen einher mit brutaler Repression, die alles erstickt, was seine Herrschaft in Frage stellt. Und treffen kann es jeden. Auch die eigene Familie.
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Die eigene Familie im Knast
Auch vor ranghohen Mitgliedern der Königsfamilie macht MbS nicht halt. Ende März gab es neue Festnahmen, unter ihnen war der ehemalige Kronprinz Mohammad Bin Najef (links), ein Neffe von König Salman und Cousin von Mohammad Bin Salman. Der Vorwurf: Verrat und angebliche Vorbereitung eines Putsches. MbS habe deutlich machen wollen, dass politischer Widerstand nicht geduldet werde, so Steinberg.
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Mutaib bin Abdullah
MbS hat auch potenzielle Konkurrenten innerhalb der Familie beseitigt. Führende Prinzen wurden inhaftiert. Neben Mohammed bin Najef gehört dazu auch Mutaib bin Abdullah, Chef der Nationalgarde. "Es geht MbS darum, in der Familie klar zu machen, dass es einen neuen Herrscher im Land gibt - und dass ihre Privilegien dabei zwar weiter gelten können, aber Widerstand nicht geduldet wird", so Steinberg.
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Prinzessin meldet sich aus dem Gefängnis
Prinzessin Basmah bin Saud kämpfte für Menschenrechte in ihrem Land und prangerte die Unterdrückung der Frauen an. 2019 verschwand sie spurlos, erst kürzlich meldete sie sich - mit einem Hilferuf. Die seit einem Jahr inhaftierte Prinzessin bittet in einem Brief um ihre Freilassung. Sie werde im Hochsicherheitsgefängnis Al-Hair "willkürlich" und ohne Anklage festgehalten, schrieb die 56-Jährige.
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Loujain al-Hathloul
Auch Loujain al-Hathloul machte sich für Frauenrechte stark - bis sie vor zwei Jahren wegen des Vorwurfs der Verschwörung ins Gefängnis kam. Sie werde gefoltert und sexuell belästigt, so ihre Schwester Lina. Sie sei seit Monaten in Isolationshaft. Nach Angaben der Familie soll Loujain ein Deal angeboten worden sein: Sie komme auf freien Fuß, wenn sie bestätige, dass es keine Folter gegeben habe.
Beobachter vermuten, der Schritt zur Änderung des Strafgesetzes sei jetzt erfolgt, um vom Gefängnistod des Bürgerrechtlers, Abdullah Al-Hamid (links), abzulenken. Er war vor wenigen Tagen in Haft an einem Schlaganfall gestorben und soll zuvor nicht ausreichend medizinisch versorgt worden sein. Die Menschenrechtler Walid Abu al-Chair und Mohammed Fahad al-Kahtani (r.) sind noch in Haft.
Bild: picture-alliance/dpa/right livelihood award
Raif Badawi noch in Haft
Einer der wohl bekanntesten Inhaftierten ist Raif Badawi. Der Blogger wurde 2013 wegen "Beleidigung des Islam" zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verhaftet. Einmal wurde er sogar öffentlich ausgepeitscht, weltweit wuchs die Empörung. Diese Reaktion dürfte dazu beigetragen haben, dass das Auspeitschen abgeschafft wurde. "Doch das bedeute nicht, dass er jetzt frei kommt", sagt Steinberg.
Auch Raif Badawis Schwester Samar sitzt seit 2018 in Haft - und mit ihr Nassima al-Sada. Beide sind bekannte Menschenrechtsverteidigerinnen. 2018 wurde eine Reihe von Aktivistinnen festgenommen, einige von ihnen, wie Amal al-Harbi, Maysaa al-Mane wurde zwar freigelassen. Doch ihre Verfahren laufen noch - so wie die von Nassima und Samar, die beide weiter im Gefängnis bleiben müssen.
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Prediger Salman al-Ouda
Salman al-Ouda gilt als gemäßigt-salafistischer Religionsgelehrter aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft - und gehört schon lange zu den einflussreichsten muslimischen Persönlichkeiten. 2017 wurde er erneut verurteilt. Er ist bekannt für seine Kritik am außen- und innenpolitischen Kurs der saudischen Führung. Er wurde zum Tode verurteilt, doch bisher wurde das Urteil nicht vollstreckt.
Bild: Creative Commons
Als 17-Jähriger in Haft
Mit Abschaffung der Todesstrafe für Minderjährige richten sich die Blicke auf Ali Mohammad al-Nimr. Er war 2012 im Alter von 17 Jahren festgesetzt worden, weil er für Reformen und die Freilassung politischer Gefangener protestiert hatte. Sein Onkel Nimr al Nimr war ein schiitischen Prediger. Nahost-Experte Steinberg geht davon aus, dass Ali nicht hingerichtet wird, aber in Haft bleibt.