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Schäuble: "Brauchen bessere Kooperation mit Russland"

1. Oktober 2020

Wolfgang Schäuble hat vor 30 Jahren die deutsche Wiedervereinigung mitgeprägt. Im DW-Interview blickt der Bundestagspräsident zurück - auch auf Fehler, die gemacht wurden; etwa im Umgang mit Russland.

Screenshot DW Interview mit Wofgang Schäuble
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) im Interview mit der Deutschen WelleBild: DW

30 Jahre Deutsche Einheit: Interview mit Wolfgang Schäuble

12:10

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DW: Herr Schäuble, Sie haben den Vertrag zur Deutschen Einheit maßgeblich verhandelt. Wenn Sie sich Deutschland drei Jahrzehnte später anschauen, haben Sie sich das so vorgestellt?

Wolfgang Schäuble: Nein. Aber wer und wo in der Welt hat sich jemals vorstellen können, was 30 Jahre später ist? Deutschland hat sich in diesen 30 Jahren, wie die ganze Welt, total verändert. Es gibt auch nicht mehr die eine Weltführungs- und Ordnungsmacht. Eine zeitlang schienen die Vereinigten Staaten von Amerika fast die einzige verbliebene Supermacht zu sein. Die Welt ist vielfältiger geworden. Der Ost-West-Konflikt, von dem wir uns nicht vorstellen konnten, wie er zu Ende geht, war durch ein Wunder, ohne Krieg, fast ohne Tote zu Ende gegangen. Aber die Welt ist deswegen nicht ein sicherer Ort geworden, sondern Kriege sind wieder möglich geworden. Ein paar Jahre später, mitten in Europa.

Ohne die Ordnungsmacht USA wäre die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen. Die USA ziehen sich zurück. Haben Sie Sorge vor einer "Unordnungsmacht " Amerika?

Nein, so würde ich das nicht sagen. Ich meine, wir Europäer, alle miteinander, verdanken ja diese glückliche Entwicklung seit dem zweiten Weltkrieg - zumindest für die West- und Mitteleuropäer, Osteuropäer haben es schwerer gehabt - nicht zuletzt der Tatsache, dass die Amerikaner aus den Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit die Lehre gezogen haben: Sie müssen Europa stabilisieren, damit sich das nicht wiederholt.

Und nun hat sich die Welt total verändert, deswegen hat die Bundeskanzlerin ja zu Recht auch 2017 gesagt: "Wir werden einen größeren Teil Verantwortung für unsere eigene Sicherheit übernehmen müssen." Ich hoffe, dass wir auch in der Zukunft in der Lage dazu sein werden, weil wir gemeinsame Werte haben: die Grundprinzipien der Menschenwürde, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, auch ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Die unterscheiden uns fundamental, etwa von dem chinesischen, sehr erfolgreichen Modell, das heute auch eine große Attraktivität hat. Aber um den Preis einer totalen Kontrolle des gesamten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen Lebens. Und das ist nicht unsere Vorstellung von der Art zu leben.

1990 unterschrieben Wolfgang Schäuble und Günter Krause den EinigungsvertragBild: picture alliance/dpa

Deswegen müssen wir versuchen, die Überlegenheit einer friedlichen, auf Ausgleich bedachten, auf ökologische Nachhaltigkeit und weltpolitische Stabilität bedachten Ordnung auf den Prinzipien der westlichen Werte zu beweisen.  Das können wir als Europäer nicht alleine, leider.  Aber wir müssen den größeren Anteil übernehmen. Und je mehr wir an Verantwortung und Relevanz übernehmen, wirtschaftlich, politisch, auch militärisch, umso mehr werden wir auch Debatten in Amerika positiv beeinflussen. Denn wenn wir relevant sind, spielen wir eine größere Rolle, als wenn wir das nicht sind.

Viele hatten Angst vor einem neu erstarkenden Deutschland zur Zeit der Wiedervereinigung. Jetzt gibt es immer mehr Rufe nach einer stärkeren Rolle. Ist Deutschland da noch sehr zaghaft?

Mit der Angst vor einem stärkeren Deutschland war's ein bisschen komplizierter. Es gab verständlicherweise im westlichen Teil Europas diese Sorgen. Man weiß das von der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher, auch bei François Mitterrand war es ähnlich. In den ersten Wochen nach dem Fall der Mauer hatte der Bundeskanzler Kohl die verlässlichste Unterstützung in Europa vom damaligen spanischen Ministerpräsidenten Gonzales. Ansonsten waren die meisten eher zurückhaltend. Was heißt es, dass 40 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Deutschen wieder das größte, bevölkerungsreichste, wirtschaftsstärkste Land in Europa sind!?

Aber das hat sich relativ schnell gelegt, weil sie alle verstanden haben, dass dieses vereinte Deutschland aus Eigeninteresse verlässlicherer Partner für europäische Integration ist. Ein polnischer Außenminister hat einmal in einer Rede gesagt: Früher haben wir die Stärke Deutschlands gefürchtet, heute fürchten wir eher das Gegenteil. Man spürt noch heute die enormen Widerstände in der deutschen Bevölkerung und in den Parteien in Deutschland, auch im Parlament. Trotzdem müssen wir uns daran gewöhnen. Andere erwarten, dass wir an den gemeinsamen Lasten einen fairen Anteil tragen.

Mehr Verantwortung für das geeinte Deutschland: Bundeswehr Soldat in AfghanistanBild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

30 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es noch große Ungleichheit zwischen Ost und West, gerade auch ökonomisch. Und populistische rechte Parteien sind stärker im Osten.

In Deutschland wäre ich ein bisschen zurückhaltend. Die wirtschaftlichen Unterschiede sind kleiner geworden, aber es ist klar, die Folgen von 40 Jahren sozialer Marktwirtschaft voller Integration in die EU, in den offenen Welthandel auf der einen Seite und die sozialistisch bürokratische Staatswirtschaft, die nicht wettbewerbsfähig war, auf der anderen Seite. Daran ist nicht zuletzt auch der Ostblock insgesamt zugrunde gegangen. Er war eben nicht in der Lage, ähnlich erfolgreich für seine Bürger Lebensverhältnisse zu schaffen, wie es die freiheitliche Ordnung gewesen ist. Die freiheitliche Ordnung, auch die soziale Marktwirtschaft, ist eben die Überlegene gewesen. Das hat tiefe Unterschiede hinterlassen. Die sind überall in Europa zu spüren.

In der DDR hatte man auch nicht die Gelegenheit, ganz organisch das Zusammenleben mit Menschen, die aus anderen Teilen in unser Land gekommen sind, zu erfahren. Dass Menschen, die das nicht gewohnt waren, leichter dagegen zu mobilisieren sind durch populistische Parolen, ist auch nicht überraschend. Das bezieht sich nicht nur auf die neuen Länder. Gucken Sie sich die Debatten in Tschechien, Ungarn oder Polen an. Das kann man den Menschen nicht vorwerfen.

Und ich will ausdrücklich sagen: Obwohl wir (Westdeutsche) seit den frühen '60er Jahren inzwischen die dritte Generation von Menschen haben, deren Großeltern oder Urgroßeltern schon aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, haben wir immer noch erhebliche Probleme. Und deswegen sollten wir Westdeutsche nicht arrogant sein gegenüber den Ostdeutschen.

Die deutsche Wiedervereinigung wurde im September 1990 mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag besiegeltBild: picture-alliance/AP Photo

Ohne Russland wäre die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen. Der russische Präsident Putin fühlt sich allerdings vom Westen historisch über den Tisch gezogen. Hat der Westen im Umgang mit Russland versagt?

Als Putin an die Macht kam, hat er eine Politik verfolgt, die gewissermaßen die aus seiner Sicht empfundene Demütigung der Sowjetunion ein Stück weit reparieren will und er hat versucht, es auf seine Art zu tun. Deswegen hat er nicht Recht, was die Krim anbetrifft. Aber wir brauchen eine bessere, fairere Kooperation mit Russland. Das haben vielleicht in Amerika in den entscheidenden Jahren auch nicht alle richtig begriffen und gemacht. Wir müssen versuchen, mit Russland in vollem Respekt für den Anspruch und die Geschichte Russlands zu einer besseren Kooperation zu kommen - übrigens auch mit China.

Ohne die Wiedervereinigung wäre die politische Figur Angela Merkel überhaupt nicht möglich gewesen. Im Augenblick können sich wenige überhaupt ein Deutschland ohne Angela Merkel nach 2021 vorstellen. Können sie es?

Wissen Sie, ich bin aufgewachsen in einer Zeit, da konnte man sich die Bundesrepublik Deutschland nicht ohne Adenauer vorstellen. Insofern, ja: Angela Merkel hat in der DDR gelebt und wäre nicht deutsche Bundeskanzlerin ohne die Wiedervereinigung geworden. Aber sie ist eine Frau von ganz außergewöhnlichen Qualitäten. Und das unterscheidet sie von ihren Vorgängern. Es scheint, dass es ihr gelingt, selbst den Zeitpunkt ihres Ausscheidens aus diesem Amt zu bestimmen. Meine Frau hat früh gesagt: "Ihr Männer gebt niemals freiwillig auf. Frau Merkel ist anders und die wird selber sagen, wann es genug ist." - Und es scheint, dass sie das schafft.

Und danach wird es weitergehen. Ich glaube, wir werden auch in zehn Jahren eine starke freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie sein. Wir werden auch einen Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin finden. Die Wähler werden es entscheiden. Dann steht sie nicht mehr zur Verfügung. Und dann wird es mit Deutschland auch weitergehen, und mit Europa auch.
 

Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble ist Präsident des Deutschen Bundestages, dem er seit 47 Jahren angehört. Schäuble hat vor 30 Jahren den Einheitsvertrag maßgeblich mitverhandelt und in mehreren Ministerämtern Verantwortung getragen.

Die Fragen stellte Michaela Küfner.

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