Schöner leiden
10. April 2005
Haben Sie das Gefühl, mit Ihrem Körper stimmt etwas nicht? Dabei ist eigentlich alles in Ordnung? Kein Problem. Sie sind Hypochonder. Und damit in bester Gesellschaft. Laut Statistik legen bis zu zehn Prozent der Bevölkerung moderner Gesellschaften hypochrondische Verhaltensweisen an den Tag. Mit dabei: die Größten, Besten und Schlausten der Welt. Sie alle eint, dass auch kleinste Beschwerden als ernsthafte Krankheitssymptome gedeutet werden.
Jammern auf hohem Niveau
In ihrem Buch "Schöner Leiden" haben die Autoren Ulf Geyersbach und Rainer Wieland "Die schönsten Krankheiten und größten Hypochonder des Universums" versammelt. In Romanauszügen, Tagebuchnotizen und Briefen kommen die Geistesgrößen zu Wort. Alle beginnen in Anbetracht vermeintlicher Krankheiten in bitterem Klagegesang zu wehleiden.
Auf hohem Niveau jammert zum Beispiel Thomas Mann. "Caviar zum Frühstück", schreibt er am 27. Dezember 1951 selbstmitleidig in sein Tagebuch. "Ernähre mich hauptsächlich mit dieser Mahlzeit, da bei den weiteren ohne Eßlust." Am Weihnachtstag zuvor quälte er sich offenbar noch viel mehr: "Morgens fieberfrei. Schwarze Zunge zum Zeichen der Infektion. Im Bett gefrühstückt. Leichte Schädelschmerzen. Sehr matt."
Narzisstische Neurosen
Hypochondrie gilt als einer der ältesten und verbreitetsten Ausdrucksformen von Krankheit. Die Organe des Unterleibs waren nach antiker Auffassung Sitz und Ursache von Gemütskrankheiten. In der Folgezeit wurde mal die Milz und mal die Leber als Auslöser nicht diagnostizierbarer Leiden ausgemacht. Im 18. Jahrhundert "avancierte die Hypochondrie zur unangefochtenen Zivilisations- und Modekrankheit" stellen Geyersbach und Wieland fest.
Immer wieder waren es Intellektuelle, die die eingebildeten Schmerzen flugs zur Lebenshaltung ausriefen. "15. Dezember 1983: Gymnastik mit Lidija", schreibt Andy Warhol:" hole mir eine Zerrung. Aber vielleicht habe ich ja auch Krebs in der Leistengegend, ich weiß es nicht." Aus Sicht der Psychoanalyse stecken schlicht narzisstische Neurosen hinter der Lust am Leiden.
Hypochonder sind männlich
"Der typische Hypochonder gilt als hoffnungslos selbstverliebt und egoistisch" schreiben die Autoren. Ob Glenn Gould, Charlie Chaplin oder Franz Kafka - sie alle jammerten mit. Gould wollte die Goldberg-Variationen nur mit Handschuhen und Mantel einspielen, egal ob in New York gerade Sommer war. Charlie Chaplin geriet beim Anblick offener Fenster in Panik. Schließich lauerte überall ein bösartiger Schnupfen. Franz Kafka diskutierte gewissenhaft das Thema Verstopfung.
Leidende Frauen haben die Autoren bei ihrer Recherche übrigens nicht gefunden. "Wir müssen bekennen, dass wir nur selten fündig geworden sind". Ob leichtes Kopfweh oder vermeintlicher Zehenkrebs - eingebildetes Leiden scheint männlich zu sein.
Ulf Geyersbach/Rainer Wieland: Schöner Leiden - Die schönsten Krankheiten und die größten Hypochonder des Universums, Argon Verlag Berlin