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PolitikEuropa

Drei Schüsse auf den Papst und viele ungelöste Rätsel

Bartosz Dudek | Erkan Arikan | Christopher Nehring
13. Mai 2021

Vor 40 Jahren wurde Johannes Paul II., der polnische Papst, Opfer eines Attentats. Die Tat, der Täter, die Rätsel - ein Blick über die Jahrzehnte.

Papst Attentat von 1981 Johannes Paul der II.
Bild: Getty Images/Keystone

Schüsse auf den Papst, auf Johannes Paul II., den Papst aus dem Osten, der seit seiner Wahl so viele Menschen in den Bann zog, der mitten im Kalten Krieg zum politischen Papst wurde. Nach dem Attentat eines türkischen Nationalisten am 13. Mai 1981, vor 40 Jahren, hielt die Welt inne. Der Blick in drei Perspektiven auf das Attentat, den Täter, die rätselhaften Hintergründe:

Das Attentat auf dem Petersplatz 

Es ist der 13. Mai 1981. Ein warmer Nachmittag. Wie immer bei seinen mittwöchlichen Generalaudienzen pflegt Papst Johannes Paul II. die gewaltige Menschenmenge vor dem mächtigen Petersdom persönlich zu grüßen. Nach 17 Uhr rollt der offene Jeep langsam an den Absperrungen entlang. Immer wieder berührt der polnische Papst Hände, die sich ihm entgegenstrecken. Ein kleines Mädchen mit lockigem Haar nimmt er in die Arme, segnet es und reicht es den Eltern zurück. Kurz stoppt der Wagen. Da fallen Schüsse, zwei, drei. Die weiße Soutane färbt sich rot vom Blut. Johannes Paul II. sinkt in die Arme seines persönlichen Sekretärs Stanisław Dziwisz. "Bis heute höre ich diese Schüsse. Ich höre die Tauben, die abheben. Das wird für immer in meinem Kopf bleiben", wird sich Dziwisz später erinnern. "Ich habe ihn gefragt: Wo? Er antwortete: Bauch. Tut es weh? Es tut weh."

Im offenen Wagen brach Johannes Paul II. zusammen.Bild: Getty Images/Keystone

Die Kugeln, die der 23-jährige Türke Mehmet Ali Agca abfeuerte, verletzen den Papst und zwei hinter ihm stehende Personen. Eine Ambulanz bringt Johannes Paul II. rasch in die römische Gemelli-Klinik. "In dem Rettungswagen war er noch bei Bewusstsein", wird sich Dziwisz erinnern. "Er betete halblaut. Und noch während der Fahrt hat er dem Attentäter verziehen."

Die Operation dauert fünf lange Stunden. Den Ärzten gelingt es, die Blutung zu stoppen und die regelrecht zerfledderten inneren Organe zu nähen. Eine der Kugeln verfehlt die wichtige Aorta nur um Haaresbreite. Der schwerverletzte Papst überlebt. Aber nie mehr wird er, für einen Sechzigjährigen noch ungewöhnlich sportlich, zu alter Kraft zurückkommen. Und zeitlebens wird er glauben, dass sein Überleben ein Wunder war. Auch Stanislaw Dziwisz, sein treuer Sekretär, heute Kardinal und emeritierter Erzbischof von Krakau, hat daran keine Zweifel.

Ali Agca - der Schütze, der Täter

Das "TIME MAGAZIN" titelt Anfang 2006 mit Mehmet Ali Agca und dem Papst.Bild: Cem Turkel/AFP/Getty Images

Wer war dieser Täter, dieser Mehmet Ali Agca? Die Titelseite des renommierten "TIME MAGAZIN" zierten bis zum heutigen Tage insgesamt zwölf Türken oder Menschen türkischer Herkunft. Als erster Türke überhaupt schmückte Mustafa Kemal Atatürk das Cover, Gründer der modernen türkischen Republik. Die letzten beiden waren Özlem Türeci und Ugur Sahin, die den COVID19-Impfstoff BioNTech entwickelten. Alle zwölf, die es auf das "TIME MAGAZIN"-Cover schafften, wurden wegen ihrer Erfolge berücksichtigt. Nur einer von ihnen wegen des Attentats, das die Welt erschütterte: Mehmet Ali Agca. 

Ali Agca war an zahlreichen Verbrechen beteiligt. Auf internationaler Ebene galt er immer mehr als die türkische Schande. Im Jahr 2000 lieferten die italienischen Behörden ihn nach 19 Jahren Haft an die Türkei aus.

Nachdem Agca noch zehn Jahre in türkischen Gefängnissen saß, macht er nach seiner Freilassung ab 2010 medial Karriere. Er veröffentlicht ein Buch, gibt verwirrende Interviews über das Attentat am Papst 1981 und die Ermordung des Journalisten Abdi İpekci 1979. Und er posiert in der Boulevardpresse mit einer Frau, von der er behauptet, dass sie seine Verlobte sei.

Mit der Zeit nimmt das Interesse der Medien an Agca ab. Der einstige Attentäter bevorzugt ein ruhigeres Leben. Fortan genießt er in einem Vorort der Bosporusmetropole Istanbul sein Leben. Vor kurzem machte er noch mit seinem Engagement für streunende Tiere reden. Obwohl nicht genau bekannt ist, wie er zurechtkommt, wird gemutmaßt, dass er Unterstützung von den "Grauen Wölfen" erhielt.

Mehmet Ali Agca (Mitte) 2010 nach seiner Haftentlassung in AnkaraBild: Adem Altan/AFP/Getty Images

Wohl für jedes Interview, für das Agca angefragt wird, verlangt er ein Honorar. Doch Medienunternehmen wollen niemandem Geld zahlen, der den berühmten Journalisten İpekci ermordete. Heutzutage sieht man Agca, mittlerweile 63 Jahre alt, eher selten in den Medien. Zurzeit, heißt es, plant er, seine Biografie in einem Dokumentar- oder gar fiktionalen Film aufbereiten zu lassen.

Die "bulgarische Spur" - ein ewiges Geheimdienstmysterium

Wer steckte letztlich hinter der Tat? Über ein Jahr nach den Schüssen auf dem Petersplatz nahm die "bulgarische Spur" ihren Anfang. Im September 1982 veröffentlichte die US-amerikanische Autorin Claire Sterling einen Artikel im "Reader's Digest", in dem sie den bulgarischen Geheimdienst beschuldigte, als Auftraggeber hinter dem Papstattentat zu stehen. Die "Bulgarian connection" (Ita.: La pista russo-bulgara) war geboren.

Autor Christopher Nehring unterrichtet Geheimdienstgeschichte an der Universität PotsdamBild: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de

Am 25.11.1982 verhafteten italienische Behörden den Bulgaren Sergej Iwanowitsch Antonow in Rom, der dort als Repräsentant einer bulgarischen Fluggesellschaft arbeitete. Agca hatte Antonow als einen seiner Auftraggeber und Kontaktmann zum bulgarischen Geheimdienst benannt. In den Zentralen der Bulgarischen Kommunistischen Partei und ihres Geheimdienstes "Darzhawna sigurnost" (DS) fiel man aus allen Wolken. Wie die heute offenen Archive zeigen, hatte man sich in Sofia zuvor kaum für das Papstattentat interessiert und verfiel nun in Panik. Dabei wusste die DS erstaunlich wenig über Agcas Verbindungen, obwohl sie ihn während seiner Aufenthalte in Bulgarien überwacht hatte. Indes: Ein Hinweis darauf, dass es einen direkten Kontakt zwischen dem bulgarischen Geheimdienst und Agca gegeben hatte, fand sich nicht in den Archiven. Ebenso in Moskau: Selbst als der KGB-Archivar Wassilli Mitrokhin 1992 in den Westen überlief, fand der britische Geheimdienste in den von ihm mitgebrachten Dokumenten keinerlei Hinweis auf eine Beteiligung Moskaus am Attentat von 1981.

Aktiv hingegen wurden die Ost-Geheimdienste an der Propagandafront. DS, Stasi und KGB waren sich einig, dass die "bulgarische Spur" eine "antibulgarische Kampagne" der CIA war. In ihrem Fokus stand Claire Sterling, die die "bulgarische Spur" als Teil der sowjetischen Unterstützung für den internationalen Terrorismus bezeichnet hatte.

William Casey, CIA-Chef von 1981-1987Bild: UOI/dpa/picture-alliance

CIA-Chef William Casey (1981-87) persönlich war einer der größten Anhänger der "bulgarischen Spur". Eine interne CIA-Untersuchung fand jedoch heraus, dass Sterling und ihr Co-Autor Paul Henze auf Informationen zurückgegriffen hatten, die die CIA selbst in der türkischen Presse lanciert hatte. Kein Wunder - Henze war als Stationsleiter der CIA in Ankara aktiv. Casey und mit ihm ein Publikum in der ganzen Welt war von der CIA selbst gestreuter Desinformation aufgesessen. CIA-Analysten fanden unterdessen keinen Beleg für eine Verbindung zwischen Agca und der Sowjetunion.

Die geheimdienstliche Propagandaschlacht fand im März 1986 ein Ende. Nachdem sich Attentäter Agca in Widersprüche verstrickte und nicht einmal Antonows Wohnung, in der er ihn angeblich aufgesucht hatte, korrekt identifizieren konnte, wurde Sergej Antonow freigesprochen. Bis zu seinem Tod 2007 schwieg er über das Papstattentat und Ali Agca.

Polens Weg und Europa

1980 in Danzig. Streikende Arbeiter der Leninwerft zeigen das Bild des PapstesBild: Zygmunt Błażek/ Zbiory ECS

Im Bewusstsein jener Polen, die das Attentat auf den Papst bewusst erlebten, haben diese Momente tiefe Spuren hinterlassen, ist sich Krzysztof Fijalek, Chefredakteur des katholischen Portals Deon.pl, sicher. 1981 befand sich Polen im Aufruhr. Nach den Arbeiterstreiks von 1980 waren die kommunistischen Machthaber gezwungen, der Gründung der ersten unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc zuzustimmen. Solidarnosc wurde zur Massenbewegung, die die Fundamente der Diktatur gefährdete. Geistiger Pate dieser Bewegung war Johannes Paul II.

Johannes Paul II. im Juni 1996 am Brandenburger Tor. Rechts neben ihm der damalige Bundeskanzler Helmut KohlBild: dpa Zentralbild

Seine Wahl zum Papst 1978 inspirierte das Streben nach Freiheit. "Eine ganze Generation fühlte Stolz und Kraft", erinnert sich Fijalek. Umso größer waren das Entsetzen über das Attentat und die folgende Freude, dass ihr Papst überlebte. "So gesehen war das ein Ereignis, das für die Polen aufbauend wirkte", meint Fijalek. Möglicherweise, mutmaßt der Journalist, habe der Papst selbst gespürt, dass seine Zeit begrenzt sei. Dies verlieh dem Pontifikat neue Dynamik.

Der Vatikan und die mächtige katholische Kirche in Polen unterstützten weiter die Opposition. Auch dank kirchlicher Vermittlung teilte 1989 das Regime die Macht mit Solidarnosc. Damit stürzte der erste Dominostein: Kurz danach fiel die Berliner Mauer. 1996 schritt Papst Johannes Paul II. Hand in Hand mit Bundeskanzler Helmut Kohl durch das Brandenburger Tor. Welche Symbolik: Deutschland wieder vereinigt, der Kommunismus in Europa Geschichte. Mehmet Ali Agca hat sein Ziel verfehlt. Im doppelten Sinne.