Schach-Weltmeister Gukesh: Inspiration für Mädchen in Indien
13. Dezember 2024Ein Keller im Süden Delhis - der Boden im Schachbrett-Design, die Klimaanlage brummt im Hintergrund. An ordentlich aufgereihten Tischen sitzen sich Kinder gegenüber, zwischen ihnen stehen Schachbretter, daneben ein Timer.
Auf einem großen Bildschirm an der Wand läuft das Spiel um den Weltmeistertitel: Dommaraju Gukesh gegen Ding Liren. Davor sitzt Shivika Rohilla und analysiert gebannt jeden Zug. Sie träumt davon, so gut zu werden wie der neue Schach-Weltmeister.
"Ich bin mir sicher, dass Gukesh gewinnen wird", prophezeite sie gegenüber der DW bereits vor der entscheidenden 14. WM-Partie und sollte damit Recht behalten. In einem aufreibenden Duell gegen den chinesischen Titelverteidiger holte sich der 18-jährige Inder den Titel und wurde zum jüngsten Schach-Weltmeister der Geschichte.
"Ich liebe die Art, wie er verschiedene Positionen visualisiert und seinen eigenen, kreativen Stil einbringt", schwärmt Shivika. Sie hat ihn sogar schon persönlich getroffen. "Er ist sehr ruhig und geduldig. Er redet nicht viel. Genauso spielt er Schach."
Indische Schach-Superstars aus Tamil Nadu
Nicht erst seit seinem WM-Erfolg bildet Gukesh die Spitze einer aufstrebenden, jungen Schachgeneration aus Indien. Andere Talente wie Rameshbabu Praggnanandhaa oder Arjun Erigaisi sind ebenfalls dabei, die Schachwelt zu erobern. Auslöser dieses Trends ist die indische Schachlegende Viswanathan Anand.
Der erste indische Weltmeister (2007 bis 2013) hat im Bundesstaat Tamil Nadu, im Süden Indiens, eine Schachinfrastruktur etabliert, die auch Gukesh nach oben gebracht hat. Schach wird dort stark gefördert und sogar in den Schulen gelehrt.
Im Norden des Landes, auch in der Hauptstadt Delhi, sieht es dagegen anders aus: Shivika bekommt nichts geschenkt und investiert alles. Angefangen hat sie mit sechs Jahren - bei einem ELO-Rating von 1100. Aktuell steht die 17-jährige nun bei über 2100.
Die ELO-Zahl beschreibt die Spielstärke von Schachspielern. Anhand dieser Zahl werden Spielerinnen und Spieler in verschiedene Kategorien eingestuft. Ab 2400 Punkten darf man sich "Internationaler Meister" nennen, ab 2500 Punkten ist man "Großmeister", die höchste Stufe im Schach. Zum Vergleich: Gukesh hat aktuell eine ELO-Zahl von 2783. Die höchste ELO-Zahl seit der Einführung des Systems im Jahr 1970 hatte Ex-Weltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen im Jahr 2011 mit 2882.
Für Shivika sind solche Werte noch entfernte Zukunftsmusik. Sie möchte im nächsten Jahr zunächst die nächste Stufe erklimmen und den Titel "Großmeister der Frauen" erreichen (2300 Punkte). Das setzt harte Arbeit und viel Training voraus. Partys und Ausgehen sind für sie ausgeschlossen. Stattdessen besteht ihr Leben aus Schach und der Schule.
Zu wenige Frauen in der Schachwelt
Indien hat mittlerweile 85 Schach-Großmeister, doch nur drei davon sind Frauen. "Es gibt einfach weniger Strukturen für Frauen", erklärt Shivika "Wenige Leute sehen Frauen als erstzunehmende Kandidatinnen an und es fehlt an Unterstützung. Es ist noch ein patriarchales Spiel."
Doch das hält Shivika nicht davon ab, weiterzumachen. "Schach ist für mich mehr als ein Spiel", sagt sie. "Es ist eine Gewohnheit. Ich will mein Leben lang Schach spielen."
Damit das möglich ist, gründete Shivika ihren eigenen Schachklub, die "Shivika Rohilla Chess Academy". Beheimatet ist der Klub im Keller des Familienhauses. Von dort möchte Shivika auch in Indiens Hauptstadt eine Schachinfrastruktur aufbauen.
Mutter: "Für Shivikas Karriere habe ich meinen Job aufgegeben"
Dr. Nidhi Bhasin ist Shivikas Agentin, Unterstützerin und Mutter. Ohne sie wäre Shivika nicht dort, wo sie heute ist. Eifrig dokumentiert Bhasin alles, was im Schachklub vor sich geht - für Social Media und für sich selbst. Sie reist um die Welt, betreibt Networking und ist in den Schachkreisen bekannt. Ein Schachbrett fasst Dr. Nidhi Bhasin selbst aber nicht an.
Für die Karriere ihrer Tochter hat Nidhi Bhasin sogar ihren Job als Zahnärztin aufgegeben. "Ich musste alles zur Seite schieben, um für Shivika da zu sein", sagt sie der DW. "Es ist nicht einfach seinen Job zu verlassen und dann seiner Tochter überall hinzufolgen."
Doch die "sehr, sehr stolze Mutter" bereut ihre Entscheidung nicht. Ihr Mann, Shivikas Vater, arbeitet als orthopädischer Chirurg. Das meiste seines Einkommens wird in Schach investiert.
Üblicherweise fördern indische Eltern keinen Sport, mit Ausnahme des lukrativen Cricket. Doch neuerdings hat es auch Schach auf die Liste geschafft. Allerdings sind es fast ausschließlich Kinder aus der Mittel- und Oberschicht, die es im Schach weit bringen. Finanzielle Ressourcen, Reisen, Training und Zeit sind nicht jedem indischen Kind vergönnt.
Auch Gukesh ist ein Beispiel dafür, dass man sehr viel investieren muss, um im Schach große Erfolge zu erzielen. Er verließ die Schule im Alter von zwölf Jahren und widmete sich nur noch dem Schachspiel. Auch Gukeshs Vater - ein Chirurg - gab seinen Job auf und lebte nur noch für die Karriere seines Sohnes.
"Da sein, wo Gukesh jetzt ist"
Um ihrem Vorbild nachzueifern, hat Shivika ein professionelles Team um sich aufgebaut. Dazu gehören ein Sportpsychologe, ein Ernährungsberater und zwei Großmeister, die sie am Schachbrett trainieren. Ihren ersten Coach, Yogender Prakash, hat sie schon längst übertroffen. Er trainiert nun die Kinder in Shivikas Schachklub.
Immer mehr dieser Schachvereine etablieren sich in Indien, wo Schach, das "Spiel der Könige", angeblich auch seinen Ursprung hat. "Hier glaubt man daran, dass Schach in Indien erfunden wurde. Die Menschen akzeptieren es als ihr eigenes, nationales Spiel", sagt Schach-Trainer Haque Minhajul der DW. Auch er profitiert vom Schach-Boom in Indien. Immer mehr Eltern suchen nach Schachunterricht für ihre Kinder.
Je breiter die Basis und je besser die Ausbildung für den Schach-Nachwuchs in Indien werden, umso wahrscheinlicher werden Erfolgsgeschichten wie die des neuen Weltmeisters Gukesh.
Obwohl Shivika beste Voraussetzungen hat und bereits einige Stufen genommen sind, ist ihr Weg in die Weltspitze noch weit. Trotzdem ist das Ziel klar. "Ich möchte mal da sein, wo Gukesh jetzt ist", sagt sie. "Ich möchte um die Weltmeisterschaft spielen."
Gut möglich, dass bald nicht nur der jüngste Schach-Weltmeister der Geschichte aus Indien kommt, sondern auch die erste Schach-Weltmeisterin, die nicht in einer reinen Frauen-Konkurrenz gewinnt, sondern sich auch gegen die besten Männer durchsetzt.