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Politik

Schadet Putin das Nawalny-Fiasko?

Mikhail Bushuev
28. Dezember 2020

Russische Geheimdienste machen in letzter Zeit Schlagzeilen: Der FSB blamiert sich im Fall der Nawalny-Vergiftung, der SWR wird hinter der Cyberattacke auf US-Behörden vermutet. Werden Köpfe rollen oder Orden verliehen?

Der Obergeheimdienstchef Putin: links der Leiter des FSB Alexader Bortnikow, rechts Sergei Naryschkin, Leiter des russichen Auslandsgeheimdienstes SWR. Anlass: Russlands Auslandsgeheimdienst SWR feiert 100 Jahre.
Der Obergeheimdienstchef Putin: links der Leiter des FSB, Alexander Bortnikow, rechts Sergei Naryschkin, Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR Bild: Alexei Nikolsky/dpa/Sputnik/Kremlin/AP/picture alliance

In der Welt von Wladimir Putin gab es die Vergiftung von Alexej Nawalny überhaupt nicht. Der Präsident Russlands nennt den führenden russischen Oppositionspolitiker nicht einmal beim Namen, für Putin ist er nur "der Patient in der Berliner Klinik". Doch viele Russen interessiert offenbar, was wirklich am 20. August geschah, als Nawalny im Flugzeug von Tomsk nach Moskau bewusstlos wurde und dann 18 Tage lang im Koma lag. Die Videos über seine gemeinsamen Recherchen mit den Investigativplattformen Bellingcat, The Insider und anderen Medien zu seiner Vergiftung sind YouTube-Hits: Das erste Video hatte in einer Woche über 20 Millionen Zuschauer, sein zweites 17 Millionen in weniger als zwei Tagen.

Der russische Inlandsgeheimdienst, der mächtige FSB, sieht darin richtig schlecht aus: verbrecherisch und gleichzeitig unprofessionell. "Das war peinlich, viel peinlicher als die Skripal-Vergiftung", sagt der britische Historiker und Geheimdienstexperte Mark Galeotti im DW-Interview. Der Unterschied zu Nawalny: Die Offiziere des Militärgeheimdienstes GRU, die im Zusammenhang mit dem Anschlag auf den Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia unter Verdacht stehen, hätten die schwierigere Aufgabe gehabt: ein Attentat im Ausland zu verüben. Der FSB agierte auf seinem Territorium, gibt Galeotti zu bedenken.

Und trotzdem: "Nicht nur sind die FSB-Leute daran gescheitert, Nawalny zu töten - es war eindeutig ihre Mission -, sondern sie hinterließen eine riesige Spur. Und weil Nawalny nach Deutschland evakuiert wurde, wurde der Fall auch noch international", erklärt Galeotti. Mittlerweile haben Putin und sein Sprecher bestätigt, dass der FSB Nawalny verfolgte und auf ihn "aufpasste", weil er angeblich von ausländischen Geheimdiensten Unterstützung bekomme.

"Säuberung" beim FSB nicht zu erwarten

Trotz der Blamage wird es keine großangelegten "Säuberungen" geben, vermutet Galeotti. "Denn wenn's drauf ankommt, hängt Putin vom FSB ab." Es gehe hier um eine "fundamentale Struktur" in Putins Regierungssystem: "Wenn er Säuberungen durchführen sollte, wächst das Risiko, dass diese Leute anfangen sich zu fragen: 'Warum sollen wir was für diesen Mann riskieren?'"

Alexej Nawalny zeigte im letzten Video, wie er einen mutmaßlichen FSB-Mitarbeiter reinlegte und der Details zum Attentat auf den Politiker preisgab.Bild: YouTube/Алексей Навальный

Dass Köpfe beim FSB rollen werden, glaubt auch Andrej Soldatow nicht. Er ist russischer Buchautor und Journalist, der seit 20 Jahren zu russischen Geheimdiensten recherchiert. Sollte es Entlassungen geben, dann nur im operativen Bereich, glaubt er: "Niemand würde den Unterschied merken". Ganz anders sei es bei durch Bellingcat und Nawalny identifizierten FSB-Chemiewaffenexperten und -Medizinern. Darunter ist der FSB-Mitarbeiter Konstantin Kudrjawzew, der auch zu dem mutmaßlichen Killerkommando gehörte. In einem Telefonat mit Alexej Nawalny hatte er sich bis auf die Knochen blamiert - er erkannte sein Opfer nicht und bestätigte faktisch den Vergiftungsanschlag auf ihn. Aber selbst Kudrjawzew habe kaum etwas zu befürchten, glaubt Soldatow. Dieser sei ein "eingeladener technischer Spezialist". Von ihm würde nicht so viel verlangt werden wie von Mitarbeitern im operativen Einsatz.

FSB, SWR und GRU "effektiv genug"

Auch der Kreml dürfte keinen Veränderungsbedarf bei den Geheimdiensten sehen, schließlich seien diese aus der Sicht des Kreml "effektiv genug", meinen beide DW-Interviewpartner. So habe der SWR, der russische Auslandsgeheimdienst, seine Fähigkeiten durch den jüngsten massiven Hackerangriff auf die Infrastruktur der USA gerade erst unter Beweis gestellt, so Galeotti. Der mittlerweile "Sunburst" genannte Cyber-Großangriff hat über Monate hinweg Teile der US-Regierung, von Forschungseinrichtungen und Privatfirmen infiltriert. Im Verdacht steht die Hackergruppe APT29, die mit dem SWR, aber auch mit dem FSB in Verbindung gebracht wird.

Das Risiko, identifiziert zu werden, ist weltweit gestiegen. "Wir hören aber über Russen viel, weil sie so unglaublich aktiv sind", so Geheimdienstexperte Mark Galeotti. Bild: Mark Galeotti

Der russische Militärgeheimdienst GRU arbeite zwar mit viel gröberen Methoden, aber dem Kreml sei nicht an einem positiven Image der Behörde gelegen, sondern an der Tatsache, dass sie seine schmutzigen Aufgaben erledige, so der Brite: "Klar, man möchte lieber smart als dumm aussehen. Aber bis zu einer gewissen Grenze akzeptiert man Identifizierungen von Agenten und Blamagen."

Den Inlandsgeheimdienst FSB bezeichnet Galeotti als "politische Polizei" in Russland. Andrej Soldatow sieht es ähnlich: "Ihnen wird das Ziel vorgegeben, das, was man im Kreml 'politische Stabilität' nennt, zu schützen. Das bedeutet Schutz des Regimes. Und dieses Ziel erreichen sie auch", meint Soldatow. "Solange Putin an der Macht bleibt, bedeutet das, dass sie ihren Job gut machen", fügt Galeotti hinzu.

Beide Experten warnen davor, die russischen Geheimdienste zu unterschätzen, nur weil sie im Moment schlecht dastehen. "Ich habe nicht den Eindruck, dass der FSB so eine löchrige Organisation ist, wie man sie manchmal darzustellen versucht", mahnt Soldatow. "Ausgewählte Repressionen" im Inland, Einschüchterung des politisch aktiven Teils der Bevölkerung betreibe der FSB "sehr effizient". Aber auch in der legitimen Kernkompetenz, nämlich bei der Terrorismusbekämpfung, sei die Behörde durchaus erfolgreich. "Vergessen wir nicht, dass der FSB in Washington, Paris oder London (diesbezüglich, Anm. der Red.) als sehr verlässlicher Partner gilt."

"Naming and shaming" wirkt gegen Moskau nicht (mehr)

Begrenzt dürfte aus Sicht des Kreml auch der Schaden durch die Taktik des "name and shame" ("benennen und beschämen") sein, das heißt, wenn der betroffene Staat verdächtigte russische Geheimdienstler namentlich nennt und damit Moskau an den Pranger stellt, so die Einschätzung beider Gesprächspartner. "Das wirkt nur, wenn die andere Seite sich beschämt fühlt", sagt Mark Galeotti. Moskau sei zwar "verärgert" und "verwirrt", wenn seine geheimen Aktionen aufflögen, aber "sie glauben, sie könnten mit dieser Beschämung schon klarkommen". 

Auf lange Sicht funktioniert die "Naming and Shaming"-Taktik doch, sagt Andrej Soldatow. "Wir wissen unvergleichbar mehr über russische Geheimdienste als vor sechs Jahren". Bild: DW/Nikita Jolkver

In Moskau habe man inzwischen immer weniger Angst vor Identifizierungen, beobachtet auch Andrej Soldatow. Das letzte Mal habe es 2016 Konsequenzen nach dem Cyberangriff auf die US-Demokraten gegeben, als das FBI einige FSB-Mitarbeiter auf die Liste der am meisten gesuchten Personen setzte. Damals sei eine FSB-Abteilung einer "ernsthaften internen Säuberung" unterzogen worden, so der russische Experte: Der leitende Offizier habe seinen Posten räumen müssen, zwei Stellvertreter ebenfalls, ein Offizier sitze hinter Gittern. "Nach dem Fall Skripal haben wir das nicht mehr erlebt", sagt Soldatow.

Soldatow nennt noch einen weiteren Grund, warum sich die russische Führung weniger Sorgen um das "naming and shaming" machen müsse. Das russische Verteidigungsministerium und der FSB verfügten nämlich über mehr technisch versiertes Personal als früher: "Selbst wenn 300 Offiziere identifiziert werden (305 Offiziere des GRU wurden 2018 im Zuge einer Recherche von Bellingcat identifiziert, Anm. der Red.), hat man immer noch genug menschliche Ressourcen." 

Das Verteidigungsministerium zum Beispiel bekomme heute mehr Cyber-Fachleute, weil es seit 2013 praktisch unmöglich geworden sei, sich vom Wehrdienst "freizukaufen", wie es in Russland früher üblich war. Moskau habe jede Menge gutausgebildete junge IT-Fachleute, die vor die Wahl gestellt würden: "Entweder den Wehrdienst in einer abgelegenen russischen Region unter harten Bedingungen und Schikanieren durch Dienstältere zu absolvieren oder dem Cyberheer beizutreten", erklärt Soldatow. 

"Es ist eine Ironie, aber Moskau nützt es"

Beide Experten kommen zu dem Schluss, dass Moskau sogar vermeintliche Niederlagen seiner Geheimdienste zu seinen Gunsten nutzen kann. Es ist in Russland fast zur Routine geworden, dass die Kreml-Führung die Folgen der gescheiterten Geheimdienstaktionen "ausbadet", meint Andrej Soldatow. So sei es auch im Fall Nawalny. "Aber manchmal wendet es der Kreml sogar zu seinem Vorteil. So war das schon 2016, als der Skandal mit der russischen Einmischung in die US-Wahlen ausbrach. Am Anfang stand das Scheitern der Operation, weil ja die russischen Hacker identifiziert wurden", sagt Soldatow. Dem Kreml aber spiele die verbreitete Vorstellung in die Karten, Putin sei eine Art "Königsmacher" bei diesen Wahlen, sagt der russische Experte im DW-Interview. 

"Die Ironie der Geschichte ist, Moskau nützt es gewissermaßen", glaubt auch Mark Galeotti. Offenbar denke man im Kreml: "Okay, wir können nun mal nicht die Guten sein, also lasst uns wie die härtesten, die bösesten Jungs aussehen." Solche Zwischenfälle, so Galeotti, bestätigten das Bild, "dass der Kreml in der Hand von brutalen Menschen ist, die in ihrer Politik vor nichts Halt machen würden".

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