1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Schalke-Fans: Suche nach Nazi-Opfern und -Tätern

11. November 2021

Auf Schalke hat sich eine Projektgruppe gebildet, die die Deportation von Juden in der Nazi-Zeit in Gelsenkirchen erforscht. Die Teilnehmer wollen die Einzelschicksale nachzeichnen und gegen das Vergessen arbeiten.

Deutschland Ausstellungshalle Gelsenkirchen | Projekt Wildenbruchplatz
Die Ausstellungshalle auf dem Gelsenkirchener Wildenbruchplatz, von wo aus 500 Juden deportiert wurdenBild: Kurt Müller

"Wir haben immer geglaubt, dass der nächste Tag nicht mehr für uns da ist", sagt Rolf Abrahamson und erinnert mit diesen Worten an die grausamen Tage der Deportation durch die Nazis - von Gelsenkirchen in verschiedene Arbeits- und Konzentrationslager. Damals war Abrahamson 16 Jahre alt, er überlebte die Deportation nur knapp. Der heute 96-Jährige ist nicht selbst vor Ort in der Neuen Synagoge in der Gelsenkirchener Innenstadt. Die Stimme wird elektronisch in den Saal übertragen. Die Intensität seiner Worte mindert das nicht. 

Rolf Abrahamson wurde als 16-Jähriger nach Riga deportiert - und überlebteBild: WDR

Dass der Zeitzeuge Abrahamson überhaupt in diesem Rahmen und an diesem Tag Anfang November in der Synagoge gehört werden kann, ist der intensiven Arbeit einer besonderen Projektgruppe zu verdanken. Fans des FC Schalke 04, Mitarbeiter des Schalker Fanprojekts und des Klubs haben sich in Kooperation mit Historikern des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen (ISG) sowie der jüdischen Gemeinde in den vergangenen Monaten auf die Suche nach Spuren der größten Deportation von Gelsenkirchener Juden Anfang 1942 gemacht. Dabei wurden viele Schicksale aufgearbeitet. Damit steht die Projektgruppe ganz in der Tradition des Klubs FC Schalke 04, der als erster Bundesligist 1994 den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung in seine Satzung aufgenommen hatte. 

Ein Ort, an dem man sich festhalten kann

Im Zentrum der Recherchen steht der Wildenbruchplatz: ein ehemals belebter, zentraler Ort der Stadt, von wo aus 350 Juden aus Gelsenkirchen und 150 aus anderen Städten des Ruhrgebiets am 27. Januar 1942 nach Riga deportiert wurden. Dorthin, wo das Morden der Nazis schon unmittelbar nach der Ankunft begann - nachdem die Menschen, in einer Halle hinter Stacheldraht und auf Stroh zusammengepfercht, in der eiskalten Nacht bei minus 27 Grad auf ihren Abtransport warten mussten.

Jannik Rituper: "Fragen, die bislang nie gestellt wurden"Bild: Karsten Rabas

"Es ist manchmal schwierig, einen Einstieg in dieses Thema zu finden. Wir haben hier aber einen Ort, an dem man sich konkret festhalten kann", sagt Jannik Rituper. Der 25 Jahre alte Schalke-Anhänger arbeitet - wie viele seiner Mitstreiter - seit einem halben Jahr wöchentlich mindestens sechs Stunden intensiv im Projekt mit und führte das Zeitzeugen-Interview mit Abrahamson. "Ich bin wahnsinnig zufrieden mit dem Ergebnis. Wir sind auf Fragen gestoßen, die bislang nie gestellt wurden", sagt Rituper.

Rund 25 Mitglieder hat die Projektgruppe, die sich nach einer vom Schalker Fan-Projekt organisierten, äußerst bewegenden Fahrt ins ehemalige Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau im Jahr 2018 spontan zusammengefunden hatte.

Opfer- und Tätergeschichten

Die Recherchen der Gruppe in vielen Archiven von Stadt, Land und Bund hat viele Schicksale von Juden aus Gelsenkirchen und den umliegenden Städten ans Licht gebracht und den schrecklichen Geschichten Namen gegeben. Wie den der Jüdin Helene Lewek, die sich kurz vor der Deportation selbst das Leben nahm. Der Wildenbruchplatz in Gelsenkirchen steht dabei nur als Symbol für so viele Orte in Deutschland und Europa, an denen der menschenverachtende Nazi-Terror wütete. 

Ein Ort des Grauens in der Nazi-Zeit: der Wildenbruchplatz in GelsenkirchenBild: Max Majer

Aber auch einige Tätergeschichten hat die intensive Recherche offenbart: Wie die des Hauptsturmführers und Gestapo-Außendienststellenleiters Robert Schlüter und dessen Ausflüchte, Verleugnungen und Abwiegelungen nach dem Krieg. Und wie ein Gericht den grausamen Täter und skrupellosen Karrieristen freisprach. 

Schalke-Anhängerin Natalie van den Meulenhof will mit ihrem Engagement "gegen das Vergessen" arbeiten. Die 30 Jahre alte Beamtin erhofft sich "durch die Aufklärungsarbeit, dass Antisemitismus eingedämmt und bekämpft werden kann". Auch Thomas Schaal, ein 52 Jahre alter Fußballtrainer aus Berlin, der für das Projekt häufig zwischen Gelsenkirchen und der Bundeshauptstadt pendelt, hat einen eindeutigen Beweggrund für sein Engagement: "Ich wollte etwas gegen Diskriminierung unternehmen. Es gibt einen Rechtsruck in unserer Gesellschaft, gegen den wir etwas unternehmen müssen", sagt der langjährige Schalke-Anhänger. "Wir müssen dem Antisemitismus entgegenstehen." 

Antisemitismus nimmt wieder zu

Die Erinnerung an die Terror-Zeit der Nationalsozialisten müsse wachgehalten werden, sagt Judith Neuwald-Tasbach. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen hat 24 Familienmitglieder in Riga verloren, einzig ihr Vater und ihr Onkel überlebten die Deportation. "Die Situation rund um den Antisemitismus ist wieder sehr schlimm geworden. Es gibt schon wieder viele kleine Schneebälle, die man aber noch zertreten kann", sagt Neuwald-Tasbach. Umso bedeutender sei diese spezielle Arbeit der Schalke-Fans.  

Sieht neue Probleme mit Antisemitismus aufkommen: Judith Neuwald-Tasbach von der Jüdischen Gemeinde GelsenkirchenBild: Karsten Rabas

Am 27. Januar 2022, genau 80 Jahre nach der Deportation der Juden vom Wildenbruchplatz, wird die Projektgruppe an dem Ort eine Gedenktafel aufstellen. Aber damit, so sind sich alle Beteiligten einig, ist die Aufklärungsarbeit noch lange nicht getan. Sie muss und sie wird weitergehen.