Die Nazis hielten ihr Skelett für einen weißen, blonden Mann. Nun stellt sich heraus: Die 9000-Jahre alten Überreste aus Bad Dürrenberg gehörten einer mächtigen Frau.
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100 Jahre lang gab ein Skelett der Archäologie Rätsel auf: Bei seiner Entdeckung in Ostdeutschland im Jahr 1934 hielt man es für die sterblichen Überreste eines mächtigen Mannes. Die Nazis, die bereits an der Macht waren, glaubten sogar, in den 9000 Jahre alten Überresten einen ihrer mächtigen "arischen" Vorfahren entdeckt zu haben, einen weißhäutigen, blauäugigen, blonden Mann.
Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass sie sich gründlich getäuscht haben. Das bestattete Skelett gehört nicht zu einem weißen Mann, sondern zum genauen Gegenteil eines "Ariers", wie die Nazis ihn sich vorstellten: zu einer dunkelhäutigen, mächtigen Frau, begraben mit einem Kind, eine Schamanin aus der mittleren Steinzeit, die ungefähr von 9500 bis 4500 v. Chr. dauerte.
Archäologische Funde - Zeugen einer bewegten Zeit
Jeder Fund der Ausstellung "Bewegte Zeiten" erzählt eine eigene Geschichte. Sie alle zeigen zugleich eindrucksvoll, dass das Gebiet Deutschlands mitten drin war in den großen Bewegungen auf dem europäischen Kontinent.
Bild: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt/J. Lipták
Der "geschmiedete" Himmel
Die Himmelsscheibe von Nebra ist ein Sensationsfund. Bis 2020 galt sie als die älteste konkrete Himmelsdarstellung überhaupt. 1999 wurde sie von sogenannten Raubgräbern in Sachsen-Anhalt gefunden. Die kreisförmige Bronzeplatte mit Applikationen aus Gold zeigt vermutlich Sterne, Sichel- und Vollmond. Ihr Alter wurde auf 3600 Jahre geschätzt. Nun glauben Forscher, dass sie jünger sein könnte.
Bild: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt/J. Lipták
Ältestes bekanntes Kunstwerk der Menschheit
Die Venus vom Hohlefels wurde 2008 bei Ausgrabungen am Südfuß der Schwäbischen Alb gefunden. Die knapp sechs Zentimeter hohe, aus Elfenbein geschnitzte Figur wurde als Anhänger getragen und ist 35.000 bis 40.000 Jahre alt. Damit ist sie vermutlich die weltweit älteste Darstellung des menschlichen Körpers und das älteste bekannte figürliche Kunstwerk der Menschheit.
Bild: Urgeschichtliches Museum Blaubeuren/J. Wiedmann
Wer den Hut auf hat,...
...hat das Sagen. Solche Goldhüte waren vermutlich religiöse Insignien von Göttern oder Priestern eines Sonnenkultes. Diese Artefakte aus der späten Bronzezeit (1000 v. Chr.) bestehen aus dünnem Goldblech voller Symbolik. Unter der hauchdünnen Schmuckverkleidung befand sich wohl die eigentliche Kopfbedeckung aus organischem Material.
Bild: Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin/C. Plamp
Schatztruhe Kölner Rheinhafen
Tausende Funde - auch diese Öllampen aus dem 1. Jahrhundert - bargen Archäologen im Schlamm des römischen Kölner Hafens. Das frisch gegründete Köln war schon eingebunden in das exzellent funktionierende Netzwerk der Römer. Güter aus Nordafrika, Fischsoße aus Pompeji oder Wein aus Aquitanien - kein Problem. Die Römer verbanden die Welt mit Schiffen. Amphoren waren die Transportbehälter jener Zeit.
Bild: Römisch-Germanisches Museum der Stadt Köln; Foto: Axel Thünker, DGPh
(Fund)Grube der Keltenfürstin
Ende 2010 wurde in der Donauebene bei Herbertingen das komplette frühkeltische Kammergrab einer Fürstin geborgen, samt Erdreich 80 Tonnen schwer. Armreife aus Holz, Bleche aus Bronze oder Ringe aus Gold, die bei der Toten gefunden wurden, kommen zum Teil von weit her. Weitere Indizien dafür, dass im 6. Jahrhundert v. Chr. reger Handel und Kontakt mit anderen Regionen Europas bestand.
Bild: Landesamt für Denkmalpflege Stuttgart/Y. Mühleis
Römischer Luxus bis in den Tod
In Haltern wurde ein besonderes römisches Grab entdeckt. Es enthielt neben dem Leichenbrand eines Mannes hochwertige Knochenschnitzereien. Es handelte sich um Teile einer Kline, eines Schlafmöbels, auf dem man auch Tote zum Verbrennen aufbahrte. Die Kline stammt aus Italien und garantierte römischen Luxus in der Fremde. Das 1900 Jahre alte Totenbett wurde aus tausenden Bruchstücken rekonstruiert.
Bild: LWL-Archäologie für Westfalen/S. Brentführer
"Schweizer Taschenmesser" der Steinzeit
Den Faustkeil, das älteste bekannte Werkzeug der Gattung Homo, gab es bereits vor rund zwei Millionen Jahren in Afrika. In Eurasien sind Faustkeile erst deutlich später, vor etwa 600.000 Jahren nachgewiesen. Das Allround-Werkzeug erfüllte wahrscheinlich zahlreiche Funktionen wie Hacken, Schneiden, Schaben, Schlagen und sogar Werfen. Dieses Exemplar aus Flintstein ist höchstens 35.000 Jahre alt.
Bild: Archäologisches Museum Hamburg
Ritt durch den Feuersturm
Dieser Reiter aus Bronze gehört zum Berliner Skulpturen-Fund und galt als zerstört. 1941 gelangte er in den Depotstandort der Partei-Propagandastelle der NSDAP. Im Spätsommer 2010 wurde er aus dem zerstörten Keller des Hauses geborgen. Der Reiter (1933/34) des Bildhauers Fritz Wrampe - für die Nazis "entartete Kunst" - ist durch die Hitzeentwicklung während der Berliner Bombennächte verformt.
Bild: Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin/A. Kleuker
Ältestes Schlachtfeld Europas
Mitte der 1990er Jahre wurde das bisher älteste bekannte Schlachtfeld in Europa entdeckt. Die Kämpfer gehörten vermutlich zwei unterschiedlichen Gruppen an. Am Fluss Tollense in Mecklenburg-Vorpommern fand man mehr als 10.000 Menschenknochen, Pfeil- und Lanzenspitzen, Speerspitzen und Messer. Die auf dem Bild gezeigten Exponate sind rund 3300 Jahre alt.
Bild: Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern
Weltsensation aus Wittenberg
Ende 2012 wurde am Wittenberger Schaffensort des Dr. Faustus eine ganze Laborausstattung gefunden: Tiegel, Becher, Retorten, Destillierkolben. Allerdings zerbrochen in 10.000 Scherben. Zusammengesetzt ergaben sie ein Alchemistenlabor aus der Zeit von 1520 bis 1540, das bisher älteste bekannte Europas. Jemand hat dort wohl die Formel zur Goldherstellung gesucht oder gar die Weltformel.
Bild: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt/J. Lipták
Ahnen auf Putz
Ein unglaublicher Fund kam in der Nähe des Bodensees bei Bad Schussenried ans Licht. Ein neolithischer bemalter Lehmputz. Er beweist, dass die Menschen bereits 4000 Jahre v. Chr. ihre Häuser stark dekorierten. Der in Berlin ausgestellte, bemalte Wandverputz, bildet eine Ahnenreihe ab, möglicherweise auch himmlische Gestalten, die über dieses Haus wachen sollten. Eine komplexe, frühe Bildidee.
Bild: Landesamt für Denkmalpflege Hemmenhofen/M. Erne
Christus im Grab
Pilgerreisen sind zentrale Ereignisse im Leben von Menschen und Pilgerzeichen der sichtbare Beweis dafür. Manche ließen sich die Zeichen ihrer Pilgerschaft ins Grab legen. Dieses Bremer Pilgerzeichen (13./14. Jh.) wurde in Harburg (heute Stadtteil von Hamburg) gefunden. Es zeigt Christus, auf einem Esel reitend. Pilgerzeichen waren überwiegend Gitter- oder Flachgüsse aus einer Zinn-Blei-Legierung.
Bild: Archäologisches Museum
Hamburg
900 Gramm Gehacktes
Ein Spaziergänger fand 2005 in der Oberlausitz den bedeutenden Silberschatz von Cortnitz. Die meisten der gefundenen Münzen, Schmuckstücke und Silberbarren wurden um 1150 vom Besitzer zerhackt. Die einzelnen Fragmente stammen aus Böhmen und Mähren, aber auch aus Bulgarien, Skandinavien und sogar Bagdad. Brauchte man Kleingeld, so wurden passende Stücke von einem größeren Batzen abgetrennt.
Bild: Landesamt für Archäologie Sachsen/U. Wohmann
Der Mann unter der Kirche
1955 wurde in dem kleinen Dorf Morken, etwa 45 km westlich von Köln, unter der ehemaligen Pfarrkirche die unberaubte Grabkammer des Herrn von Morken gefunden. Der war im späten 6. Jahrhundert n. Chr. dort bestattet worden. In der Kammer lagen Beigaben von höchster handwerklicher Qualität: Speise- und Trankbeigaben, Waffen und auch dieser Helm aus Eisen und Gold mit Kupferlegierung.
Bild: LVR-Landesmuseum Bonn/J. Vogel
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Wer war die Schamanin von Bad Dürrenberg?
"Selten hat man sich in einer Person so sehr getäuscht wie in dieser Frau", schreiben Harald Meller und Kai Michel in ihrem Buch "Die Schamanin von Bad Dürrenberg: Eine Reise in unsere Vergangenheit", das in diesem Jahr erschienen ist. Darin legen sie dar, wie sie dem Skelett seine Geheimnisse entlockt haben, mit Genanalyse, Kernspintomographie und modernsten Zahnuntersuchungen.
Nicht nur Geschlecht und Hautfarbe des Skeletts trieben die Archäologie um, sondern auch ihre Position in der Gesellschaft: War diese Frau eine mächtige Schamanin? Wenn ja, warum übte ausgerechnet sie diese Tätigkeit aus? Und wer ist das Kind, das neben ihr begraben wurde?
Was ist der Schamanismus?
Schamaninnen und Schamanen sind "Grenzgänger zum Geisterreich, zu dem sie mittels Trance Zugang finden", schreiben Michel und Meller. Sie vermitteln zwischen der Geisterwelt und der lebendigen Welt und nutzten dazu zum Beispiel Trommeln oder andere Instrumente, Tanz und Mittel, die eine Trance induzieren.
Manche Forschenden sind der Ansicht, Schamanismus existiere lediglich in bestimmten Kulturen Sibiriens, andere betrachten es als weitverbreitetes Phänomen der Geschichte und den Schamanismus "als erste Religion der Menschheit".
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Eine wichtige Frau
Als Schamanin wurde die Frau in Bad Dürrenberg wegen ihrer Grabbeigaben eingeordnet: Sie trug beim Begräbnis ein Rehgeweih auf dem Kopf, vielleicht sogar einen ganzen Rehkopf. Die Panzer dreier Sumpfschildkröten, die in ihrem Grab lagen, könnten als Rasseln gedient haben, die bei schamanischen Ritualen verwendet wurden. Außerdem wurden ihr zahlreiche durchbohrte Tierzähne mitgegeben.
Eine Untersuchung des Halswirbels der Frau ergab, dass die Blutzufuhr zu ihrem Hirnstamm eingeschränkt war, was vermutlich zu einem sogenannten Downbeat-Nystagmus führte. Wenn sie den Kopf senkte, traten unkontrollierte Augenbewegungen auf, rasten die Augäpfel von oben nach unten.
... begraben mit einem fremden Kind
Es war für sie nicht gefährlich, eine Veränderung der Kopfposition normalisierte die Augenbewegung wieder. Es könne aber so ausgesehen haben, als sei sie in Trance oder von tierischen Geistern "besessen" gewesen, schreiben Meller und Michel. In ihrer Gemeinschaft wurde sie zu einer geschätzten Persönlichkeit, sogar zu einem mächtigen Menschen. Der Verdacht, dass sie eine Schamanin gewesen sein könnte, wird durch diesen Befund erhärtet.
Auch über das Kind, mit dem sie bestattet wurde, gewannen die Forschenden neue Erkenntnisse: Bei der kompletten Sequenzierung des Erbguts der Frau und einer Teilentschlüsselung des Genoms des Kindes stellte sich heraus, dass es sich nicht um Mutter und Kind handelt. Das begrabene Kind ist ein Junge, aber nicht ihr Sohn. Verwandt, aber nicht direkt. Die Schamanin wurde mit einem Kind bestattet, das nicht ihr eigenes war. Das Kind würde noch weiteren Untersuchungen unterzogen, schreiben Meller und Michel, um Hinweise darauf zu finden, wie und warum es im Grab der Schamanin seine letzte Ruhe fand.
Wie lebten Menschen früher?
Michel und Meller zeichnen in ihrem Buch das Bild einer Frau, die mächtig und bedeutsam war, die in einer Gemeinschaft lebte und als Orakel, weise Frau oder politische Anführerin fungierte. Die mit einem Kind bestattet wurde, das nicht das ihre ist, und die trotz oder wegen eines ungewöhnlichen körperlichen Phänomens geschätzt wurde.
Sie weisen in ihrem Buch darauf hin, dass die Untersuchungen der Schamanin ergeben, dass ein weitverbreitetes Geschichtsbild veraltet ist, demzufolge Frauen Männern unterlegen waren, keine prächtigen Begräbnisse erhielten oder wichtige Positionen bekleideten und sich vor allen Dingen um ihre eigenen Kinder kümmerten. Menschen, die körperlich anders waren als der Durchschnitt, wurden auch nicht verstoßen und Körper, die in Ostdeutschland gefunden werden, müssen auch keine weiße Hautfarbe haben.
Vor 9000 Jahren könnte es zudem normal gewesen sein, dass eine weibliche Person mit nicht-weißer Hautfarbe, die sich körperlich vom Durchschnitt ihrer Gemeinschaft unterschied, zu einer mächtigen spirituellen oder politischen Anführerin werden konnte.
Ein Albtraum der Nazis
Das war den Nationalsozialisten nicht genehm. Sie waren auf der Suche nach einem Beweis dafür, dass die Arier schon immer in Deutschland gelebt haben, dass sie sogar aus Deutschland stammen, um ihr "tausendjähriges Reich" und ihre Rassenlehre zu stützen.
Ihnen fehlten nicht die modernen archäologischen Methoden, wie Michel und Meller aufzeigen, sondern die Fähigkeit, das Grab ohne Vorurteile zu betrachten. Der bestattete Junge wurde zum Beispiel in den ersten zwei Untersuchungen gar nicht oder nur am Rande erwähnt. Dass es sich um eine Frau handeln könnte, wurde gar nicht erst in Betracht gezogen. Das wurde erst 1957 vorgeschlagen, das Alter des Skeletts erst in den 1970er-Jahren zum ersten Mal bestimmt.
So entpuppte sich über die Jahre der "Traumfund der Nazis", wie Harald Meller und Kai Michel in ihrem Buch schreiben, als "Albtraum aller Nazis".
Die Schamanin ist nicht die einzige: In diesem Jahr stellte sich heraus, dass der "Mann von Neuessing", 34.000 Jahre alt, ebenfalls keine weiße Hautfarbe hatte. Der als "ältester Bayer" bekannte Mensch lebte in der Eiszeit im heutigen Süddeutschland - und war schwarz. So hat die Archäologie, in den Worten Kai Michels und Harald Mellers, "das Potenzial, unsere Gewissheiten auf den Kopf zu stellen."