Max Frisch "Berliner Journal"
24. Januar 2014"Friedenau, viele Rentner", notiert Max Frisch am 13. Februar 1973. Eine Woche zuvor haben er und seine Frau in der Sarrazin Straße 8 eine Wohnung übernommen und den Abend mit einem Essen bei Günter Grass ausklingen lassen. Es gab Nieren.
Max Frisch ist fast 62 Jahre alt, seine zweite Frau Marianne gerade einmal 34. Sie haben ihren Wohnsitz in Zürich aufgegeben und sind nach West-Berlin gezogen, in den gutbürgerlichen Stadtteil Friedenau. Dort sind auch Freunde und Kollegen zu Hause. Uwe Johnson bringt zum Einstand ein kleines gerahmtes Bild vorbei, Anna Grass hilft mit Bettzeug aus. Max Frisch geht in seiner recht leeren Wohnung auf und ab. Noch wird nicht gewohnt, sondern gewartet - auf Möbel, Telefon, warmes Wasser. Aber einen Arbeitstisch hat er schon und dazu die erste Lampe. Was reicht, um Tagebuch zu schreiben. Notate, knappe, hingeworfene Beobachtungen, Gefühle, Reflexionen.
Einblicke
Von Beginn an, mit den ersten Zeilen, hat der Schweizer Schriftsteller den öffentlichen Leser im Kopf. Und verfügt doch, dass sein "Berliner Journal" erst zwanzig Jahre nach seinem Tod erscheinen darf. Weil es auch um seine Ehe, die später geschieden wird, geht. Weil er nicht trennt zwischen Öffentlichem und Privatem. Aus den ersten beiden Notizheften ist jetzt ein Buch geworden, ein schmaler Band, 160 Seiten, oft nur spärlich bedruckt, laut Nachwort gekürzt um allzu intime Einblicke in die "Ehe-Ruine". Und dennoch unbedingt lesenswert.
Alltagsbeobachtungen, natürlich. Ein Maurer will den Küchenschrank versetzen, in der Mittagspause, ist gehetzt wie Woyzeck. Der eigene erfolglose Kampf gegen den Alkohol, das Hadern mit dem Alter, Schreibblockaden, Spaziergänge am Schlachtensee, "Berlin ohne eine einzige Zeitung von Rang." Und immer wieder, wie hingeworfen, kleine geschliffene Sätze: "Die merkwürdige Bereitschaft, noch einmal zu leben, wenn das möglich wäre."
Eindringlich die ungeschönten Portraits von Kollegen, Grass, der alle nervt mit seinem Zwang, sich öffentlich zu äußern, Uwe Johnson, der gewissenhafte, rigoros Moralische, Hans-Magnus Enzensberger, "so intelligent, dass man ihn nicht als Schwätzer bezeichnen kann".
Das andere Berlin
Und dann und vor allem und immer wieder: die Besuche in Ost-Berlin, in der Hauptstadt der DDR, in diesem ganz anderen Deutschland, das dem Schweizer fremd ist und das ihn fasziniert.
Frisch fährt zur Leipziger Buchmesse, lässt sich hofieren. Er trifft Lektoren, Verleger und Autoren - Wolf Biermann, Christa und Gerhard Wolf, Ulrich Plenzdorf, Günter Kunert, Klaus Schlesinger. Aufregend findet er es mit ihnen, hier, "in der Fremde", findet für Max Frisch das wahre Leben statt, im Schatten von Zensur und Denunziantentum sind Gespräche möglich, bei denen die Gedanken noch wachsen dürfen. Man geht zusammen spazieren, feiert, debattiert bis zur letzten S-Bahn. Frisch hört zu, fragt vorsichtig, beobachtet mit unbestechlichem Blick. "Die Literatur als Fenster, in jedem Gespräch hier ist zu spüren, dass sie eine Funktion hat. Sie sind unversnobt, sehr wach, einer großen Herzlichkeit fähig; kein Palaver. Es ist ein Wunsch, wenn man sagt: Auf Wiedersehen! Auch von unsrer Seite".
Ein selten kluger Zeitzeuge ist Max Frisch. Und ein wehmütiger, in die Jahre gekommener Mann. Er sinniert über das Vergessen und die Löcher in seinem Kurzzeitgedächtnis, beklagt die eigene Unattraktivität und fürchtet das nahe Ende seines Lebens. Anfang 1974 bricht das "Berliner Journal" ab. Max Frisch bereitet eine Reise nach Amerika vor. Im März 1974 wird er dort mit der 32 Jahre jüngeren Amerikanerin Alice Locke-Carey ein Wochenende in dem Dorf Montauk verbringen. Es sollte Ausgangspunkt der 1975 erschienenen gleichnamigen Erzählung werden, Frischs persönlichstem Buch, in dem er von all seinen bisherigen Liebesverhältnissen erzählt. Darin hat er beinahe wörtlich Passagen aus dem Berliner Journal übernommen.
Max Frisch, Aus dem Berliner Journal, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 233 Seiten, 20 Euro