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PolitikEuropa

Europa: Schengen lebt, aber mit vielen Ausnahmen

17. Juli 2024

Ohne Grenzkontrollen zu reisen, ist ein Recht der EU-Bürgerinnen und Bürger. Einige Staaten kontrollieren trotzdem. Warum ist das von Fall zu Fall möglich oder gar sinnvoll? Bernd Riegert aus Brüssel.

Ortseingangsschild von Schengen in Luxemburg
Ortschild von Schengen in Luxemburg an Grenze zu Frankreich und Deutschland: Hier entstand der Vertrag zu kontrollfreiem ReisenBild: picture alliance/Caro

Hunderttausende Fußballfans waren zur Europameisterschaft nach Deutschland eingereist. Um die Sicherheit der EURO 2024 zu gewährleisten, gab es an den Grenzen stichprobenartige Kontrollen. Nun wird in Deutschland wieder darüber diskutiert, ob es sinnvoll wäre, solche temporären Kontrollen an den Grenzen zu anderen EU-Ländern weiter aufrecht zu halten.

Eigentlich sind Personenkontrollen innerhalb des sogenannten "Schengenraums" nach europäischem Recht untersagt. Nur unter eng begrenzten Voraussetzungen sind zeitlich begrenzte Kontrollen überhaupt zulässig. Zum Schengenraum gehören alle EU-Staaten, außer Irland und Zypern, sowie die Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island. Benannt ist die Reiseregelung nach dem Ort Schengen in Luxemburg, in dem 1985 die erste Vereinbarung zur Abschaffung der Grenzkontrollen von fünf Staaten unterzeichnet wurde.

Fußball-Fans wurden an der deutsch-belgischen Grenze kontrolliert: Ausnahme für die EuropameisterschaftBild: Christoph Hardt/Panama Pictures/IMAGO

"Herzstück der Integration"

Der kontrollfreie Reiseverkehr ist Teil des europäischen Binnenmarktes. Er sieht den freien Verkehr von Personen-, Waren-, Kapital- und Dienstleitungen in der ganzen EU vor und ist das Herzstück der europäischen Einigung. Das Reisen ohne Schlagbäume und Kontrollen "bleibt eines der Kronjuwelen der europäischen Integration", sagte der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas.

420 Millionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger sowie 500 Millionen jährliche Reisende aus Nicht-EU-Staaten genießen die Vorzüge des Schengenraums. Damit die EU-Mitgliedsstaaten auf Grenzkontrollen innerhalb der Union verzichten konnten, ist eine effiziente Kontrolle der Außengrenzen der EU nach gemeinsamen Kriterien vereinbart worden.

"Schengen ist kaputt"

Doch die Kontrolle der Außengrenzen ist nach Auffassung vieler Innenminister und Innenministerinnen der EU noch immer mangelhaft. Besonders seit 2015, dem Beginn größerer Migrationsbewegungen aus dem Nahen und Mittleren Osten über Griechenland und Italien in die EU, wird ein mangelnder Schutz der Außengrenzen beklagt. Der österreichische Innenminister Gerhard Karner sagte im Oktober 2023: "Schengen war noch nie so kaputt wie jetzt." Aus seiner Sicht ist die Einreise für Menschen ohne Pass und Visum zu einfach.

Transitländer und Empfängerländer von Migranten entlang der Balkanroute sind deshalb dazu übergangen, ihre Binnengrenzen wieder gegenseitig mit Kontrollen zu versehen. An der Grenze zwischen Österreich und Deutschland wird bereits seit 2015 wieder regelmäßig kontrolliert. Frankreich umgibt sich seit den verheerenden Terroranschlägen 2015 und 2016 ebenfalls mit Kontrollen.

Damit es im Innern keine Kontrolle gibt, muss die Außengrenze der EU bewacht werden: Grenzpolizist an der rumänischen Grenze zu MoldauBild: picture alliance / dpa

In ihrem jährlich erscheinenden Bericht zum Zustand der Schengen-Zone weist die EU-Kommission darauf hin, dass die Personenkontrollen an zahlreichen Binnengrenzen der EU meistens nicht den Charakter von "systematischen Kontrollen" aller Personen haben, die über die Grenzen wollen. Vielmehr wird an einigen Autobahnen oder Zugstrecken eine Sichtkontrolle durchgeführt. Nur wenige Verdächtige werden stichprobenartig tatsächlich herausgefischt und gründlich überprüft. Diese Art der Kontrollen führt in der Regel nicht zu größeren Verzögerungen oder zu Staus bei der Ein- und Ausreise. Lkw und andere Warentransporte sowie Berufspendler sollten möglichst nicht kontrolliert werden.

EU-Kommission: Kontrollen nur als letztes Mittel

Als Alternative zu sichtbaren Kontrollen mit Posten an der Autobahn empfiehlt die EU-Kommission gemischte Patrouillen aus mehreren Ländern, die im Hinterland der Grenzen an spontan eingerichteten Kontrollpunkten Papiere, Visa und Aufenthaltstitel überprüfen. Außerdem wird auf die sogenannte Schleierfahndung gesetzt, bei der in einem Streifen von 30 Kilometern diesseits und jenseits der Landesgrenzen Personenkontrollen ohne konkreten Verdacht durchgeführt werden können. Dauerhafte sichtbare Kontrollen an den Grenzen sind nur "das Mittel der allerletzten Wahl", heißt es im Schengen-Grenz-Kodex, der gerade überarbeitet und von allen Mitgliedsländern verabschiedet wurde.

Auf der Suche nach unerlaubt einreisenden Migranten: Grenze zwischen Ungarn und der SlowakeiBild: Denes Erdos/AP/picture alliance

Erlaubt sind systematische Grenzkontrollen nur bei besonderen Gefahrenlagen oder bei planbaren Großereignissen wie Olympischen Spielen, G7-Gipfeln oder wie kürzlich bei großen Fußballturnieren. Die Kontrollen müssen auf maximal sechs Monate begrenzt bleiben und sie müssen jeweils einzeln nachweisbar begründet werden. So fordert es der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung.

In der Praxis jedoch verlängern die Mitgliedsstaaten ihre Ausnahmen zur Schengenregelung eins ums andere Mal mit vagen Begründungen wie Migrationsdruck, Terrorgefahr, Sicherheitsbedenken nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine oder vermehrtem Antisemitismus nach den Terroranschlägen der Hamas und den Gegenschlägen Israels. Die EU-Kommission ermahnt die Mitgliedsstaaten immer wieder, ihre Grenzkontrollen auf das Notwendigste zu beschränken, eine echte Handhabe hat sie aber nicht.

Die Grenzkontrollen an Binnengrenzen müssen nicht genehmigt, sondern nur mit vier Wochen Vorlauf angezeigt werden.

Im Schengen-Kodex gibt es auch eine Notfall-Regelung. Sollte eine Außengrenze zum Beispiel von einer Vielzahl von Migranten überrannt werden, können die Mitgliedsstaaten ihre Binnengrenzen ohne große Vorankündigung kontrollieren.

Frankreich: Zwischen Festung und Freiheit

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Sind Binnenkontrollen sinnvoll?

Bei der Fahndung setzt die Polizei sehr oft eine Abfrage im "Schengen-Informations-System" (SIS) ein. Diese Datenbank wird von allen Mitgliedsländern mit den Daten von Haftbefehlen gefüttert, damit kontrollierte Personen europaweit überprüft werden können, und das nicht nur an Landesgrenzen. Das SIS steht mobil allen Polizeibehörden zur Verfügung.

In Deutschland behaupten einige Vertreter der CDU/CSU, der FDP und den Polizeigewerkschaften nun, dass die Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen wegen der Fußball-Europameisterschaft sehr effizient gewesen seien und deshalb beibehalten werden sollten. Fachleute in der EU-Kommission, die nicht genannt werden wollen, weisen jedoch darauf hin, dass der hohe Aufwand von 22.000 zusätzlichen Polizisten und 800.000 kontrollierten Personen natürlich auch zu vielen Treffern geführt habe. Diese Polizeiarbeit müsse aber nicht unbedingt an den Grenzen stattfinden. 800.000 zusätzliche Kontrollen an Autobahnen im Landesinnern, an Bahnhöfen oder anderen neuralgischen Punkten hätten womöglich ähnliche Fahndungserfolge erbracht. Im Übrigen habe man tausend Haftbefehle zusätzlich vollstrecken können - bei rund 180.000 offenen Haftbefehlen in Deutschland.

Denkmal für eine europäische Errungenschaft: Steelen in Schengen erinnern an die Reisefreiheit, die seit 29 Jahren praktiziert wirdBild: picture-alliance/dpa

Die EU-Kommission weist in ihrem Schengen-Lagebericht darauf hin, dass zum Beispiel Drogenkriminalität besser an der Quelle bekämpft werden sollte, nämlich in den großen Häfen der EU wie etwa in Hamburg, Antwerpen oder Amsterdam - und nicht erst an den Binnengrenzen im Schengenraum. Dem stimmen die EU-Mitgliedsstaaten im Prinzip zu und haben Aktionspläne zur besseren Kontrolle der Häfen auf den Weg gebracht.

Die deutsche Polizeiliche Kriminalstatistik weist aus, dass die gesamte Zahl der Straftaten in Deutschland seit Einführung der Schengenregeln gesunken ist. 1995 - beim Start von Schengen - wurden 6,6 Millionen Straftaten von der Polizei registriert. Im Jahr 2023 waren es 5,9 Millionen.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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