1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Schicksalswahl am Strafgerichtshof

Barbara Wesel
12. Februar 2021

Die Neuwahl des Chefanklägers für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ist eine Weichenstellung für die künftige politische Ausrichtung des Tribunals, das weltweit Kriegsverbrechen verfolgt.

Niederlande | Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag
Bild: picture-alliance/AP Photo/P. Dejong

Anfang Februar hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGh oder Englisch: International Criminal Court, ICC) in Den Haag sein letztes spektakuläres Urteil gefällt. Er sprach Dominic Ongwen, einen der früheren Anführer der ugandischen Lord's Resistance Army (LRA), in 61 Anklagepunkten mehrerer Kriegsverbrechen für schuldig. Die Milizen der LRA hatten jahrelang die Bevölkerung im Norden Ugandas terrorisiert. Ongwen wurde nach jahrelangem Prozess wegen Mordes, Kindesentführung, Versklavung, Vergewaltigung, Folter und weiterer Horrortaten verurteilt. Menschen in Uganda, auch im ehemaligen Kriegsgebiet, konnten den Schuldspruch per Livestream verfolgen.

In 61 Anklagepunkten für schuldig befunden: Ex-Rebellenführer Dominic Ongwen aus UgandaBild: ICC-CPI/REUTERS

Der Chefankläger bestimmt die Richtung

Am Ende ihrer neunjährigen Amtszeit wird die jetzige Chefanklägerin, die gambische Juristin Fatou Bensouda, im Sommer aus dem Amt scheiden. Und sie hat für ihren Nachfolger "den Tisch gedeckt mit einer Menge von Messern und anderen scharfen Gegenständen", sagt Mark Kersten von der "Munk School of Global Affairs" in Toronto. "Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes ist der Kapitän, der in vielerlei Hinsicht das Schiff steuert", denn er entscheidet darüber, welche Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit das Gericht zu ahnden versucht.

Und da hat Fatou Bensouda einen Richtungswechsel vorgegeben. Jahrelang wurde dem IStGh vorgeworfen, es beschäftige sich vor allem mit afrikanischen Rebellenführern, die in ihren Heimatländern juristisch nicht verfolgt werden konnten. Die Fälle galten politisch als niedrig hängende Früchte.

Bensouda aber setzte die Untersuchung von Verbrechen auf die Agenda, die möglicherweise von US-Soldaten in Afghanistan begangen wurden. Dies trug ihr und anderen Beschäftigten am Gericht einen Einreisebann durch die Trump-Regierung ein. Und die Entscheidung vom Februar, mit der sich der IStGh auch für eventuelle Kriegsverbrechen in den Palästinensergebieten für zuständig erklärte, quittierte der israelische Regierungschef Netanjahu mit dem Vorwurf des "Antisemitismus".

Darüber hinaus gibt es Vorermittlungen gegen russische Militärs wegen möglicher Taten in Georgien und in der Ukraine. Außerdem fühlt China sich betroffen durch Recherchen zur Vertreibung der Rohingya aus Myanmar.

Der neue Chefankläger geht also harten politischen Kämpfen mit starken Ländern entgegen. Gerade deswegen, so sagt Elizabeth Evenson von Human Rights Watch, sei diese Wahl "eine der folgenreichsten Entscheidungen. (…) Das Mandat des IStGh war unter enormem Druck, die Sanktionen von Trump haben das Gericht unterminiert und der neue Chefankläger muss seine Aufgabe in voller Unabhängigkeit erfüllen, um das Versprechen der Gerechtigkeit zu erfüllen".

Es ist Gerechtigkeit als letzte juristische Chance: Der IStGh ermittelt und urteilt nur in Verfahren, die nationale Gerichte nicht verfolgen wollen oder können. Mark Kersten übrigens glaubt, dass die Biden-Regierung mit dem IStGh zwar besser kooperieren werde, andererseits aber wie unter Obama "Widerstand leisten wird in Fällen wie Afghanistan oder den Palästinensergebieten".

Chefankläger als Multitalent

"Der Chefankläger muss Einschüchterungsversuchen widerstehen", sagt Elizabeth Evenson, "es ist ein harter Job und nie einfach, weil immer mächtige Interessen im Spiel sind". Und auf den Neuen warten weitere Aufgaben: "Er muss die Mitgliedsländer wegen der Finanzprobleme angehen", denn Ende 2020 beklagte das Gericht fast 30 Millionen Euro ausstehender Mitgliedsbeiträge. Abgesehen davon stehe oben auf der Liste, so die NGO-Vertreterin, "die Ermittlungsarbeit zu stärken und die Arbeitsweise des Gerichtes zu verbessern".

Machte auch vor großen Staaten nicht Halt: die scheidende Chefanklägerin Fatou BensoudaBild: Getty Images/AFP/ANP/B. Czerwinski

Außenstehende wollten immer, dass die Person des Chefanklägers alle Qualitäten in sich vereint, erklärt Völkerrechtsexperte Mark Kersten: "Er soll der intellektuelle Kopf der Internationalen Strafgerichtsbarkeit sein. Er soll der diplomatische Vertreter des IStGh sein. Und er soll der beste Verfahrensanwalt sein sowie der beste Ermittler". Dass alles könne ein Mensch allein eigentlich nicht leisten, umso wichtiger sei das Team, mit dem er sich umgeben werde.

Und schließlich gibt es noch die unerfreuliche Sache mit dem Sonderbericht, den Juristen unter Leitung des renommierten südafrikanischen Richters und früheren UN-Anklägers im Jugoslawien-Tribunal Richard Goldstone vor einigen Monaten erstellten. Er zeichnet das traurige Bild einer internationalen Organisation, die vom Weg abgekommen ist: In Teilen dysfunktional, teuer, voller Misstrauen und geprägt von schlechtem Arbeitsklima.

Mark Kersten gewinnt diesem schwierigen Erbe eine positive Seite ab: "Der Sonderbericht ist eine echte Chance für den neuen Chefankläger, Dinge innerhalb der Institution zu verändern, was sonst schwierig gewesen wäre. Er kann als neuer Amtsinhaber eine Dynamik entfalten, um das Gericht und die Bürokratie durchzuschütteln". Aber die Aufgabe werde stressig, denn die Erwartung sei, dass der IStGh schneller, effizienter und sensibler gegenüber sexueller Belästigung werden müsse. "Was wir also brauchen, ist ein Allroundgenie", fügt der Völkerrechtler hinzu, "drücken wir die Daumen".

Der Neue wird ein Mann

Klar ist, dass auf eine Juristin aus Afrika ein männlicher Chefankläger aus Europa folgen wird. Liegt darin eine Art politischer Rückschritt? Der Auswahlprozess wurde von Beobachtern als "unglaubliche Klüngelei" beschrieben. Die 132 Mitgliedsländer konnten sich wochenlang nicht einigen, so dass gegen den guten Brauch am Ende abgestimmt werden muss. Das Verfahren, wird berichtet, sei voller Intrigen und Cliquenwirtschaft gewesen.

Zuletzt wurden dem irischen Richter Fergal Gaynor und dem britischen Kronanwalt Karim Khan die besten Chancen eingeräumt. Eine Frau war nicht mehr in der Schlussrunde. Elizabeth Evenson glaubt, dies sei ein Problem des Auswahlverfahrens: "Die Mitgliedsländer sollten vorausdenken und ein offenes Verfahren planen, dass auf Verdienst basiert statt auf politischen Deals. Dann werden auch mehr qualifizierte Kandidaten antreten und man bekommt mehr Vielfalt".