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PolitikUkraine

Schlacht um Pokrowsk: Es wird kritisch für Kiew

Roman Goncharenko
24. August 2024

Trotz der ukrainischen Offensive in Russland nähert sich die russische Armee im ostukrainischen Donbass der Stadt Pokrowsk, einem Knotenpunkt. Für Kiew wird die Lage zunehmend kritisch. Was steht auf dem Spiel?

Evakuierung in Pokrowsk, 19. August 2024
Evakuierung in Pokrowsk, 19. August 2024Bild: Evgeniy Maloletka/AP Photo/picture alliance

Pokrowsk ist der heißeste Ort im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Mehr als ein Drittel aller Angriffe der russischen Armee finden in diesen Tagen in dieser Richtung im Donbass statt. Am Donnerstag waren es 53 von 144, teilte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte mit. Laut verschiedenen Berichten rückte die russische Armee bis auf zehn Kilometer an die Stadt heran. Der Ukraine droht der Verlust eines wichtigen Nachschubzentrums für ihre Truppen. Die militärische Führung hat Verstärkung angekündigt, die Bewohner Pokrowsks und der benachbarten Städte Myrnohrad und Selidowe wurden zur Evakuierung aufgefordert. Ein Überblick.

Was in Pokrowsk geschieht

Oliver Carroll war am vergangenen Dienstag in Pokrowsk. "Es ist klar, dass sich die Stadt bereits in einer vorkritischen Phase befindet", sagt der Korrespondent der britischen Zeitschrift "The Economist". "Es ist ein bekannter Zyklus: Die russische Artillerie beginnt, die Außenbezirke zu beschießen, dann kommen gelenkte Bomben und FPV-Drohnen ins Spiel, die Städte verwandeln sich schnell in Geisterstädte, die Menschen fliehen." Geschäfte und Krankenhäuser seien zwar noch in Betrieb, aber insgesamt seien nur wenige Menschen auf der Straße. Seit dem 12. August ist in dem von Kiew kontrollierten Teil des Donbass eine neue Ausgangssperre verhängt worden. Sie gilt von 17:00 bis 9:00 Uhr in Siedlungen, die weniger als zehn Kilometer von der Frontlinie entfernt sind.

Zertörtes Wohnhaus in Pokrowsk, März 2024Bild: National Police/Handout via REUTERS

Pokrowsk ist eine Bezirksstadt am westlichen Rand der Region Donezk und hatte vor dem Einmarsch der Russen etwa 60.000 Einwohner. Jetzt leben nach Schätzungen weniger als 40.000 Menschen dort. Carroll sagt, er habe Evakuierungen mit dem Zug gesehen. Die Gebietsverwaltung führt eine Evakuierung von Pokrowsk in die Region Riwne in der Westukraine durch. Auf der Website wird ein kostenloser Zug alle acht Tage angeboten. Serhij Harmash, Chefredakteur des Webportal "Ostriw", meint, dies reiche nicht aus: "Die Menschen werden unorganisiert flüchten."

"Das ist ein sehr trauriges, aber leider ein sehr vertrautes Bild für den Donbass, wenn Menschen fliehen, die ihre Wertsachen in ein paar Taschen gepackt haben. Man sieht Autos mit Möbeln auf den Dächern", sagt Oliver Carroll. "Ich habe mit einer 84 Jahre alten Frau gesprochen, die vor der zweiten Evakuierung ihres Lebens steht. Sie erinnert sich an die erste als kleines Mädchen in den frühen 1940er Jahren. Jetzt ist sie auf der Flucht vor Wladimir Putins Armee. Die Frau war so wütend, dass sie nicht einmal seinen Namen aussprechen konnte."

Warum Pokrowsk wichtig ist

Die Bedeutung von Pokrowsk ist kaum zu überschätzen. Die Stadt liegt an der Kreuzung wichtiger Eisenbahn- und Straßenverbindungen, darunter die E50, die westlich nach Pawlohrad im benachbarten Gebiet Dnipropetrowsk führt. Bis zur Gebietsgrenze sind es etwa 20 Kilometer. Das Erreichen dieser Grenze ist ein erklärtes Ziel des Kremls.

Nach offiziellen Schätzungen kontrollierte die Ukraine im Herbst 2023 etwa 45 Prozent der Region Donezk, in der rund 480.000 Menschen lebten. Seitdem ist die Fläche geschrumpft, genaue Daten gibt es nicht (unsere Karte zeigt die Lage vor drei Monaten).

Die ukrainische Armee verfüge über "zwei wichtige logistische Knotenpunkte, die es ihr ermöglichen, den ukrainischen Teil des Donbass zu kontrollieren", sagt Jurij Butussow, einer der bekanntesten ukrainischen Kriegskorrespondenten und Leiter von "Censor.net". "Das sind die Ballungsräume Pokrowsk-Myrnohrad und Slawjansk-Kramatorsk. Sie sind von strategischer Bedeutung." Butusow sagt, dass "die Situation für den gesamten Ballungsraum Pokrowsk-Myrnohrad kritisch ist".

Der österreichische Militärhistoriker Markus Reisner teilt diese Sorge. "Pokrowsk ist nicht nur ein wichtiger Stützpunkt für die Logistik der Ukraine. Wenn er wegfällt, führt das zu Lieferverzögerungen in anderen Gebieten. Aber es ist auch faktisch ein Stützpunkt der dritten Verteidigungslinie und dahinter ist das offene Land", sagt der Oberst an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. "Darum ist die Situation so gefährlich".

Markus Reisner: "Die Situation ist gefährlich" Bild: BMVL

Unmittelbar westlich von Pokrowsk im Gebiet Donezk gibt es keine größeren Städte, die für Verteidigung wichtig sind. Ob die Ukraine in der Lage sein wird, starke Verteidigungslinien aufzubauen, ist eine offene Frage. Das dauere in der Regel Monate, so Reisner. Seiner Meinung nach könnte im schlimmsten Fall, wenn es Probleme mit der westlichen Hilfe geben sollte, "die Initiative im Donbass endgültig auf die russische Seite übergehen und ein Durchbruch erfolgen, der möglicherweise erst am Dnipro gestoppt werden kann." 

Es werde jedoch keinen Durchmarsch geben, schätzt der Korrespondent Carroll. Die Entfernung bis Dnipro sei lang, es gebe andere Ortschaften. Die Ukraine müsse ihre Befestigungen ausbauen.

Wie sich russische Armee Pokrowsk näherte

Die Situation bei Pokrowsk ist nach Ansicht von Beobachtern die Folge von zwei Ereignissen. Erstens hat Russland am 17. Februar 2024 Awdijiwka erobert, einen gut befestigten Vorort von Donezk. Von Awdijiwka bis Pokrowsk sind es etwa 60 Kilometer. Die russische Armee hat den größten Teil davon in sechs Monaten zurückgelegt und ist dabei im Durchschnitt weniger als einen Kilometer pro Tag vorangekommen. Das zweite wichtige Datum liegt im Mai 2024, als es der russischen Armee in der Nähe des Dorfes Otscheretyne gelang, die Rotation der ukrainischen Verbände auszunutzen und die Front "durchzudrücken", wie Jurij Butussow es beschreibt. Ihm zufolge rücken die russischen Streitkräfte in kleinen Gruppen vor. Oliver Carroll hat ähnliche Informationen: "In Awdijiwka wurde die Infanterie von mechanisierten Einheiten unterstützt. Jetzt hat Russland weniger gepanzerte Fahrzeuge, die Hauptoffensive wird von Infanterie auf Motorrädern und Rollern geführt, das ist die Haupttaktik".

Markus Reisner glaubt, dass Pokrowsk zufällig zum heißesten Punkt des Krieges im Donbass geworden ist: "Russland hat es dort geschafft, die zweite Verteidigungslinie der ukrainischen Truppen zu durchbrechen, das hätte auch anderswo passieren können, zum Beispiel in Siwersk."

Awdijiwka, Februar 2024Bild: TASS/imago images

Was ist der Grund für den Vormarsch der russischen Armee auf Pokrowsk?

Beobachter nennen mehrere Faktoren, unter anderem die Folgen des Munitionsmangels im Winter, als die US-Lieferungen ausblieben. Jetzt ist die Lage besser, aber wie der Oberbefehlshaber Olexander Syrskij neulich sagte, sei Russland mit einem Verhältnis von eins zu drei bei Artilleriegranaten immer noch überlegen.

Die Bewaffnung sei nicht die Hauptursache, sagen Beobachter. "Es gibt ein Problem in der Organisation und der Gefechtsplanung", so Jurij Butussow. Oliver Carroll spricht ebenfalls darüber, doch für ihn liegt der Hauptgrund woanders: "Die ukrainischen Streitkräfte sind am Ende, sie sind stark erschöpft, einige Kämpfer bleiben 30 bis 40 Tage, in einigen Fällen bis zu 70 Tage in ihren Stellungen."

Wird die Kursk-Offensive helfen?

Vor diesem Hintergrund vermuten viele Experten, der Zweck der ukrainischen Kursk-Offensive auf russisches Gebiet bestehe darin, Russlands Druck im Donbass zu verringern. Bislang ist dies nicht in dem Maße aufgegangen, wie es sich Kiew vielleicht erhofft hatte. Beobachter glauben nicht, dass Kursk die Lage im Donbass verändern wird.

Russland habe seine Anstrengungen eher verdoppelt, stellt Oliver Carroll fest. Einer der ukrainischen Artilleristen sagte ihm, das Problem sei nicht nur ein Mangel an Granaten, sondern dass Russland seit Anfang des Jahres "sein System zum Aufspüren und Zerstören von Artillerie erheblich verbessert" habe. 

Was ist zu erwarten?

In den vergangenen Tagen hat sich der Vormarsch des russischen Militärs bei Pokrowsk verlangsamt, sagen Beobachter, aber die Aussichten seien schlecht. "Jetzt besteht die reale Gefahr, dass der Feind Pokrowsk, Myrnohrad und Selidowe noch vor Ende des Jahres einnimmt", sagt Jurij Butussow. Oliver Carroll schätzt es ähnlich ein: "Die Frage ist: Was dann? Zu welchen Kosten für Russland? Und wird die Ukraine in der Lage sein, den Vormarsch zu verlangsamen?" Pokrowsk könnte Russland den Weg sowohl nach Westen und Süden in Richtung Dnipro und Saporischja als auch nach Norden in Richtung Kramatorsk öffnen.

Bachmut, Mai 2023Bild: UKRAINIAN ARMED FORCES/REUTERS

Die landschaftlichen Bedingungen seien für die ukrainischen Truppen schwieriger als 2022 und 2023 in Bachmut mit seinen Höhen und Hochhäusern, sagt Jurij Butussow. Dort dauerte die Verteidigung mehrere Monate.

Zumindest ein seit langem befürchtetes Szenario ist nach Ansicht von Experten noch nicht eingetreten - die Einkreisung der ukrainischen Truppen im Donbass. Für Russland sei "ein langsamer Vormarsch wichtig", erläutert Jurij Butussow. Es gehe nicht darum, eine Schlacht mit einem Schlag zu gewinnen. Das US-amerikanische "Institute for the Study of War" (ISW) schrieb in einem Bericht vom 22. August, die ukrainischen Streitkräfte zögen sich aus den Stellungen südöstlich von Pokrowsk zurück, um eine taktische Einkreisung zu vermeiden.

Experten wie Markus Reisner hoffen, der Westen werde die Gefahr der Lage um Pokrowsk erkennen und seine Unterstützung verstärken. Jurij Butusow glaubt, nur Drohnen könnten die Situation schnell verändern, wobei die Ukraine hier "einen gewissen Vorteil gegenüber den Russen hat, den sie schnell ausbauen kann". Zu diesem Zweck könnten die westlichen Partner Kiews die bereits bestehenden Drohnenfabriken in der Ukraine direkt finanzieren. Mit Drohnen habe die Ukraine eine Chance, die russische Offensive zu stoppen.