1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Schlafloses Ostasien

17. April 2005

Der Zorn der Menschen in China und Korea auf Japan ist nicht bloß pure Hysterie, schreibt die koreanische Dozentin Eun-Jeung Lee. Sie warnt jedoch vor pauschaler Kritik und plädiert für mehr Differenzierung.

Demonstration in Seoul gegen JapanBild: AP

Seit Wochen findet Ostasien keine Ruhe mehr. Angesichts der scharfen Kontroverse um japanische Schulbücher und diverse Inseln hat man in Ostasien das Gefühl, sich in einem waffenlosen Kriegszustand zu befinden. Einerseits demonstrieren Zigtausende von Bürgern in China und Korea gegen Japan und organisieren Boykottbewegungen gegen japanische Produkte, während andererseits die japanische Regierung Entschädigungen für die Schäden, die japanischen Firmen in China zugefügt werden, verlangt. Ein konservativer japanischer Wissenschaftler wirft den demonstrierenden "comfort women" in Korea sogar vor, Spione Nordkoreas zu sein.

Eine Frage der Perspektive



Nächtliche Protestaktion in SüdkoreaBild: AP


Für Außenstehende mögen die Bilder aus Peking oder Seoul überraschend sein. In Europa mag man diese Art von Reaktionen als hysterisch empfinden. Ist die Wut von Chinesen und Koreanern wirklich nur grundlose Hysterie?

In Europa können die früheren Kriegsgegner auf einen 60-jährigen Versöhnungsprozess zurückblicken. Man hat sich stetig und gemeinsam um die Aufarbeitung der Vergangenheit bemüht und kann deshalb ohne Sorgen nach vorne blicken. Aus dieser Perspektive müssen die gegenwärtig aufeinanderprallenden Gefühle in Ostasien unverständlich erscheinen.

Wenn man sich aber in die Lage der Nachkommen der Opfer des japanischen Imperialismus versetzt, die von den Nachkommen der Täter immer wieder zu hören bekommen, dass ihre Vorfahren doch einen großartigen Beitrag zur Entwicklung der Region geleistet hätten, werden diese Reaktionen vielleicht schon ein bisschen verständlicher. Dann wird man den Regierungen in China und Korea vielleicht nicht mehr so leicht vorwerfen, sie würden aus innenpolitischen Gründen den anti-japanischen Nationalismus ihrer Bürger mobilisieren – zumal das politische Bewusstsein der Bürger genügend entwickelt ist, um sich nicht so leicht instrumentalisieren zu lassen.

Rechtsruck in Japan

Der Zorn der Menschen in China und Korea ist im Hinblick auf das, was gegenwärtig in Japan passiert, durchaus verständlich. Denn das Schulbuch der "Vereinigung für eine neue Geschichtsschreibung", das Anfang April 2005 vom Bildungsministerium genehmigt worden ist, verklärt die Geschichte noch mehr als frühere Versionen. Vor vier Jahren, als ein Schulbuch dieser Vereinigung zum ersten Mal genehmigt worden war, gab es wegen der verdrehten Geschichtsdarstellungen heftige Proteste aus China und Korea. Die neue Version des Schulbuches ist aus Sicht Chinas und Koreas eindeutig eine Verschlechterung. Die Kriegsverbrechen Japans in China und Korea werden verharmlost, hingegen werden die Siege Japans im Sino-Japanischen und Russo-Japanischen Krieg glorifiziert. Das Nanjing-Massaker und die Zwangsprostitution werden erst gar nicht erwähnt.

Japanische Soldaten in China im zweiten WeltkriegBild: AP

Ein gravierendes Problem ist hierbei, dass das japanische Bildungsministerium dieses Buch als ausgewogen preist. Die japanische Zeitung "Mainichi Shimbun" berichtet, dass das Ministerium diese Verschlechterung des Schulbuchs indirekt gefördert habe. Dahinter steht der zunehmende Rechtsruck der japanischen Regierung unter Ministerpräsident Koizumi. In seiner Regierungszeit, also seit 2001, ist der Nationalchauvinismus deutlich gestärkt worden. Ungeachtet der Proteste aus China und Korea hält er an seinen jährlichen Besuchen des Yasukuni Schreins fest.

Lesen Sie im zweiten Teil, wo sich auch in Japan kritische Stimmen regen und warum Japan, Korea und China in ihrer Vergangenheitsbewältigung von Deutschland oder Polen lernen können.

Auch kritische Stimmen in Japan

Die gegenwärtigen Bemühungen der japanischen Regierungspartei LDP, die Verfassung zu ändern, sind auch in diesem Kontext zu sehen. Bei der Verfassungsänderung geht es vor allem um die Abschaffung von Artikel 9, der Japan den Unterhalt von Land-, See- und Luftstreitkräften ausdrücklich verbietet. Die verschärften Territorienkonflikte mit China, Korea und Russland lassen sich wohl auch mit diesem Ziel in Verbindung bringen. Man fragt sich, wohin die japanische Regierung ihre Gesellschaft zu treiben beabsichtigt. Zur völligen Isolation oder zur neuen (stellvertretenden) Hegemonialmacht in Ostasien?


China und Japan streiten über Inseln und Gasfelder im Ostchinesischen MeerBild: AP/Kyodo News


Allerdings darf man nicht übersehen, dass die japanische Gesellschaft nicht nur aus den nationalchauvinistisch-konservativen Kräften besteht. Es gibt hier in Japan durchaus auch viele kritische Stimmen. Die Tageszeitung Ashahi Shimbun kritisiert die Regierung offen und hart und hält es für unverantwortlich, mit solch einem Geschichtsbuch junge Menschen und spätere Bürger unterrichten zu wollen. Viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben bereits eine Bürgerbewegung initiiert, die verhindern soll, dass dieses neue Geschichtsbuch von den Schulen ausgewählt wird. Dadurch hatten sie 2001 erreicht, dass dieses Geschichtsbuch der "Vereinigung für eine neue Geschichtsschreibung" lediglich von 0,038 Prozent der Schulen angenommen wurde.

Wenig historisches Allgemeinwissen

Wie diese Entscheidungen in diesem Sommer ausfallen werden, bleibt abzuwarten. Die "Vereinigung für eine neue Geschichtsschreibung" hat sich als Ziel zehn Prozent der Schulen gesetzt. Diesmal wird sie, anders als 2001, von vielen konservativen Politikern direkt unterstützt. Im Parlament ist sogar ein Verein entstanden, der diese "Vereinigung für eine neue Geschichtsschreibung" unterstützt. Zu ihren Sponsoren gehören auch große, bekannte Unternehmen Japans.

Buchhandlung in TokioBild: AP

Sollte dieses Schulbuch auf breiter Basis verwendet werden, hätte das fatale Folgen. Schon jetzt wissen viele japanische Bürger kaum etwas von der Geschichte Japans und seiner Nachbarn. Mancher junge Student fragt sich, wann denn Japan überhaupt gegen Amerika Krieg geführt habe. Erst recht wissen sie nichts von Verbrechen der japanischen Truppen in Ostasien. Umso bedeutender sind die Aktivitäten von NGOs und aufgeklärten Bürgern und in Japan.

Von Deutschen und Polen lernen

Deshalb fordert die koreanische Regierung ihre verärgerten Bürger auf, nicht Japan als solches zu attackieren. Es seien die rechtsradikalen und konservativen Kräfte, die kritisiert werden müssten. Das Problem ist, dass diese gegenwärtig den Mainstream bilden. Süd-Koreas Präsident Roh Moo Hyun hält es für ein Unglück, mit denjenigen als Nachbarn leben zu müssen, die den Krieg als eine glorreiche Tat betrachten. Er und seine Regierung wollen entschlossen gegen diesen mainstream angehen. Deshalb hat sie auch im Bezug auf die Frage der Reform des ständigen Sicherheitsrates der UNO eine klare Position gegen Japan bezogen. Zugleich will die koreanische Regierung eine Kommission für "richtige Geschichtsschreibung" bilden.

Es wäre wünschenswert, wenn gemeinsam mit China in Japan Schulbuchkommissionen gebildet werden könnten. Dass und wie eine solche Zusammenarbeit funktionieren kann, kann man von Europa lernen, wo unter anderem deutsch-französische und deutsch-polnische Schulbuchkommissionen sehr gute Arbeit geleistet haben. Das ist sicherlich Zukunftsmusik. Dennoch ist eine Zusammenarbeit auf regionaler Ebene dringend notwendig, um den breiten Einsatz des neuen Geschichtsbuches zu verhindern.

Pauschaler Boykott hilft nicht

Japanisches Restaurant in SchanghaiBild: AP

Darüber hinaus sollten China und Korea deutlich machen, dass sich die gegenwärtigen Protestbewegungen nicht gegen Japan an sich, sondern gegen rechtsradikale und konservative Kräfte richten. Soweit Japan an sich angegriffen wird, schwächt man die sich Aufklärung und Verständigung bemühenden Bürger und NGOs in Japan. Man muss sich immer wieder daran erinnern, dass sich auch bei diesem Konflikt um ein Schulbuch nicht Staaten als solche gegenüberstehen. Vielmehr geht es um die Frage von Gerechtigkeit und Frieden in Ostasien.

Insofern ist es nicht sinnvoll, japanische Produkte zu boykottieren. Effektiver wäre es, in der Zusammenarbeit der Bürger dieser drei Länder eine Boykottbewegung gegen die Produkte von Unternehmen zu organisieren, die die "Vereinigung für eine neue Geschichtsschreibung" nachweislich unterstützen. Wegen der sich wiederholenden Probleme ist jetzt höchste Zeit, sich über eine engere Kooperation Gedanken zu machen. Sonst werden wir in Ostasien noch viele schlaflose Nächte verbringen müssen.

Die Koreanerin Dr. Eun-Jeung Lee lehrt unter anderem an der Universität Halle und lebt zurzeit in Japan

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen