Gefährliche Angst vor dem Arztbesuch
28. Mai 2020Anfang April hatte Thomas S. einen Schlaganfall. In Deutschland hatten die Corona-Beschränkungen eingesetzt, aus Italien kamen dramatische Bilder von den Intensivstationen mit schwerkranken COVID-19-Patienten. Thomas S. ist 50 Jahre alt und Risikopatient. Vor vier Jahren überlebte er einen Herzinfarkt, seine Blutzuckerwerte sind hoch, er raucht und hat Übergewicht.
Als er plötzlich feststellte, dass die WhatsApp Nachrichten, die er schrieb, nur noch Buchstabensalat waren, schrillten natürlich die Alarmglocken, wie er der DW berichtete. Trotzdem weigerte er sich, ins Krankenhaus zu gehen: "Das sind doch Corona-Hotspots, da geh ich doch nicht hin, sonst hol ich mir das."
In der Tat gibt es Hinweise, dass Bluthochdruck, Diabetes, Asthma, Krebs und andere ernsthafte Gesundheitsprobleme zu einem schweren COVID-19 Krankheitsverlauf führen können. Der größte Teil der Todesopfer hatte solche Vorerkrankungen.
Termine abgesagt aus Angst vor Ansteckungen
In seiner Angst vor dem Krankenhaus war Thomas S. offenbar kein Einzelfall: Die Zahlen der Krankenkasse AOK für April zeigen einen Rückgang der Herzinfarkt- und Schlaganfall-Patienten in den Notaufnahmen um 30 Prozent. Diese Woche meldeten Kardiologen und Onkologen einen Rückgang von 50 Prozent in ihren Praxen: Die Patienten sagten Termine ab, da sie die Ansteckungsgefahr in den Wartezimmern fürchteten.
Die deutschen Zahlen stimmen mit denen aus anderen Ländern überein. DieInternationale Schlaganfall Organisation (World Stroke Organization) befragte im Februar 2020 Ärzte und Krankenhäuser in 100 Ländern: Sie verzeichnen weltweit einen Rückgang um 50 bis 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Jede Minute zählt
"Schlaganfall und Herzinfarkt sind akute Notfälle, bei deren Behandlung jede Minute zählt - auch in Zeiten einer Pandemie", warnte der Chefarzt der Uniklinik Hamburg-Eppendorf, Christian Gerloff schon Anfang April im "Spiegel". "Patientinnen und Patienten sollten keinesfalls vor Sorge um eine Ansteckung eine Krankenhausbehandlung vermeiden."
In Deutschland sterben jährlich 47.000 Menschen an einem Herzinfarkt. Ein Drittel der Todesfälle ereignet sich außerhalb des Krankenhauses, weil der Patient gar nicht oder zu spät den Notarzt ruft.
14 Millionen Menschen sterben weltweit pro Jahr an einem Schlaganfall. Auch in Deutschland ist der Schlaganfall die dritthäufigste Todesursache, nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs. Die Zahl der jungen Patienten - unter 55 Jahre - macht jetzt schon 20 Prozent der jährlich 280.000 Fälle aus - und diese Zahl wird steigen, so sagen Experten.
"Deutschland ist mit 330 zertifizierten "Stroke Units" im internationalen Vergleich hervorragend aufgestellt", sagt Mario Leisle von der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Selbst in der COVID-19-Pandemie funktionierten diese multidisziplinär ausgestatteten Versorgungseinheiten, obwohl ein Teil der Betten auf Intensivstationen für COVID-19 Patienten freigehalten wurden. "Die akute Schlaganfall-Versorgung hat seitens der Krankenhäuser überhaupt nicht gelitten. Es gab nur Probleme aus Sicht der Patienten, die sich nicht oder zu spät in die Krankenhäuser begeben haben", sagt Leisle.
Ohne Begleitung fehlen wichtige Informationen
Auch die strikten Zugangsbeschränkungen in Krankenhäusern haben den Ärzten die Arbeit erschwert: "Von den Kliniken haben wir die Rückmeldung bekommen, dass akute Schlaganfall-Patienten jetzt fast immer unbegleitet ins Krankenhaus kommen. Dann ist es für den Neurologen oft nicht möglich, Informationen zu bekommen, zum Beispiel welche Medikation der Patient bekommt, das ist wichtig für die Behandlung", sagt Leisle.
Als Thomas S. schließlich doch ins Krankenhaus gebracht wurde, waren wertvolle Stunden vergangen. Er konnte nicht mehr sprechen. Jeder fünfte Schlaganfall-Überlebende erleidet Langzeitschäden, durch die er sein Leben lang auf Hilfe angewiesen ist. In Deutschland betrifft das inzwischen rund eine Million Menschen.
Schnelle und umfangreiche Rehabilitationsmaßnahmen sind für Herzinfarkt-, Schlaganfall- und Krebspatienten essentiell. Aber auch hier hat die COVID-19-Pandemie dramatische Auswirkungen gehabt.
Corona-Langzeitfolgen
Therapeutische Einrichtungen stehen vor großen Herausforderungen, weil sie die Abstandsregelungen nicht einhalten können. Zudem sind Therapeuten wegen ihres Alters oder Vorerkrankungen teilweise selbst als Hochrisiko-Gruppen einzustufen. Ambulante Einrichtungen haben ihre Arbeit heruntergefahren.
Die Deutsche Schlaganfall-Hilfe berichtet von einer großen Verunsicherung der Menschen, die sich aus Angst vor Ansteckung oft isolieren, was Vereinsamung und Depression befördert. "Wer jetzt aus der Reha kommt und keine weiterführende Therapie bekommt, riskiert natürlich einen Rückschritt, wo er Gefahr läuft, die neugewonnenen Fähigkeiten schnell wieder zu verlieren", sagt Mario Leisle.
Der fehlende Kontakt zu Angehörigen ist eine zusätzliche Belastung: Rehakliniken und Krankenhäuser haben strikte Besuchsverbote verhängt. "Es ist schon sehr traurig, dass besonders unsere Aphasiker (Menschen mit zentralen Sprachstörungen, Anm. d. Red.) keinen Kontakt zu ihren engeren Angehörigen halten dürfen", bestätigt Christiane Mais von der Aphasiker-Zentrum NRW: "Aber einige sind in der Lage, telefonischen Kontakt zu ihren Angehörigen zu halten."
Persönliche Kontakte durch Digitalisierung
Das ist schwer für Thomas, der nach acht Wochen in einer Rehaklinik noch immer kaum sprechen und nicht schreiben kann. Einige Rehakliniken haben Tabletts angeschafft, über die dann die Nachrichten der Angehörigen - in Wort, Bild oder Video - an die Patienten weitergeleitet werden. So haben sie wenigstens einen etwas persönlicheren Kontakt, berichtet Christiane Mais.
Der Anstieg digitaler Angebote gibt auch Reha-Patienten Hoffnung: Selbsthilfe-Gruppen treffen sich im Online-Chat und spezielle Reha-Fitness-Apps erleben einen Boom: zum Beispiel "Rehappy", entwickelt von einem Start-Up in Aachen: Die Software bietet personalisierte Wissens- und Fitnessprogramme, je nach Motivations- und Trainingsbedarf des Schlaganfall-Patienten.