Der Klang deutscher Zeitgeschichte
21. März 2021Als Die Toten Hosen" im Oktober 2013 die Bühne der Düsseldorfer Tonhalle - einen Konzertsaal - betraten, standen Lieder auf ihrem Programmzettel, die man so nicht von ihnen kannte. Die Punkband spielte Lieder, die an verfolgte Künstler und an eine Zeit erinnerten, in der es reichte, Jude oder Gewerkschafter zu sein, um von Nazis ermordet zu werden.
Es war ein Gedenkkonzert an einem historischen Ort. Der Titel "Entartete Musik - Willkommen in Deutschland" sollte an die berüchtigte Ausstellung im benachbarten Ehrenhof erinnern, die im Mai 1938 verfemte und verfolgte jüdische Musiker und Komponisten öffentlich an den Pranger der NS-Kulturpolitik stellte. Mit Gänsehautfaktor 10 sang Frontmann Campino die "Moorsoldaten", das Widerstandslied der politischen Häftlinge im Konzentrationslager Börgermoor.
Alle Bandmitglieder engagieren sich seit langem gegen Neonazis und Rechtsextremismus. In der Bonner Ausstellung "Hits & Hymnen. Klang der Zeitgeschichte" im Haus der Geschichte gehören sie zu den Bands, die mit ihrer Musik selbst Geschichte geschrieben haben - als Botschafter für ein demokratisches, weltoffenes Deutschland. Plattencover und Fotos von Konzerten zeigen ihre Anfänge als junge deutsche Punkband.
"Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien"
Beim Rundgang durch die Ausstellung gibt es viel Unterhaltsames zu hören: legendäre Songs, Schlager, Zeitzeugen, Liedermacher, Popmusiker. Und historische Konzertausschnitte von Bands, die an geschichtsträchtigen Orten gespielt haben: die Rolling Stones zum Beispiel, bei deren Konzert 1965 in der Berliner Waldbühne das gesamte Mobiliar zu Bruch ging. Zuletzt musste die Polizei eingreifen, um die hysterischen Fans zur Räson zu bringen.
Startpunkt im Haus der Geschichte ist die Nachkriegszeit in Westdeutschland. Der "Kippenboogie" wurde 1945 in den Straßen der zerstörten Städte auf die Melodie des US-amerikanischen Songs "Sentimental Journey" gesungen und gepfiffen. Der Schlager "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien" mauserte sich 1948/49 zum erfolgreichsten deutschen Karnevalshit. Mit der Wortschöpfung Trizonesien spielte Bäckermeister Karl Berbuer, der sich das Lied ausgedacht hatte, auf die amerikanische, britische und französische Besatzungszone an, aus denen 1949 die spätere Bundesrepublik entstand.
"Neue Männer braucht das Land"
Der Zeitgeist spiegelt sich in den Songs und Schlagern höchst unterschiedlich wider - eine Zeitreise sind allein die Musiktitel. Sentimentale Schmachtfetzen wie die "Capri-Fischer" von Rudi Schuricke erreichten in den 1940er-Jahren ein Massenpublikum. Teeniestar Peter Kraus, der "deutsche Elvis", wie die Zeitungen schrieben, schaffte es in den 1950er-Jahren mit "Sugar Baby" und "Susi Rock (Bluejean Bob)" an die Spitze der deutschen Hitparaden.
Die 1960er-Jahre waren geprägt von anfangs braven Beat-Bands, aber mit den Konzerten der Beatles und Rolling Stones, die lautstark "Satisfaction" forderten, rollte auch in Deutschland die Protestwelle an. Politische Liedermacher trafen sich auf Festivals.
Zur gleichen Zeit schmetterte Wunderkind Heintje seinen Superhit "Mama" im Radio - 1968 die meistverkaufte Single in Deutschland. Und Schlagersängerin Wenke Myhre rang mit ihrem süßen ausländischen Akzent und einem unaussprechlichen Titel den Fans ein Lächeln ab: "Sie trägt ein Ding Dong Bama Lama Sing Song Teeny Weeny Flower Power Kleid..."
In den 1970er-Jahren suchten Politrock-Bands wie "Ton Steine Scherben" und Krautrocker wie "Can" mit Agitprop ihr Publikum in der linken Szene. Die frauenbewegten Sängerinnen Ina Deter ("Neue Männer braucht das Land") und Nina Hagen, die "Godmother of Punk", mischten frech die Szene auf. Die Kölschrocker von BAP brachten mit Sänger und Frontmann Wolfgang Niedecken selbstbewusst den Dialekt in die Rockmusik.
In den 1980er-Jahren werden Musiker wie Herbert Grönemeyer ("Bochum"), Marius Müller-Westernhagen und Udo Lindenberg zu umjubelten Stars. Alle drei komponierten und sangen auch politische Songs - gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Lindenberg schrieb mit seinem "Sonderzug nach Pankow" Geschichte. Er bewegte die DDR-Führung in Ost-Berlin dazu, Konzerte von Westmusikern zuzulassen. Seine eigenen Konzerte 1990 in Suhl und Leipzig sind unvergessen.
"Ballade vom preußischen Ikarus"
Als roter Faden zieht sich die deutsch-deutsche Geschichte durch die ganze Ausstellung. Musikgeschichte in der DDR ist ein ganz eigenes Kapitel. Politische Botschaften mussten in Ostdeutschland sehr versteckt und zwischen den Zeilen platziert werden. Protestsongs oder agitatorischer Punkrock waren im Osten nicht erlaubt.
Der Titelsong des DEFA-Films "Die Legende von Paul und Paula", gespielt von den "Puhdys", avancierte 1973 zum Kassenschlager nicht nur bei jungen Leuten. Der nur im Osten bekannten Band verhalf der Film endgültig zum Durchbruch. Über Jahre hielten die "Puhdys" ihre vordersten Plätze in den DDR-Hitparaden. Später wurden sie auch im Westen gespielt. Auch die Scorpions sind Teil der deutsch-deutschen Musikgeschichte. Ihre Ballade "Winds of Change" wurde 1990 zur Hymne der deutschen Wiedervereinigung und weltweit auf Platz 1 der internationalen Charts katapultiert.
Ein ganzer Raum ist dem Liedermacher Wolf Biermann gewidmet. Erinnerungsstücke und Fotos der künstlerischen Patchworkfamilie - mit Ziehtochter Nina Hagen - ergänzen die Hörstationen. Biermanns legendäres Konzert am 13. November 1976 in der Kölner Sporthalle, das damals zu seiner Ausbürgerung aus der DDR geführt hat, ist auf großen Videoleinwänden mitzuerleben: auf der Bühne direkt neben ihm, aus der Zuschauerperspektive und als tränenreiches Medienerlebnis.
Die Ausstellung "Hits & Hymnen. Klang der Zeitgeschichte" ist noch bis zum 10.10.2021 im Haus der Geschichte in Bonn zu sehen. Zur Zeit ist sie nach Anmeldung für Zuschauer zugänglich: hdg.de/haus-der-geschichte.