1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Schneejäger" in den Schottischen Highlands

Richard Baynes
7. Januar 2022

Jedes Jahr untersucht eine kleine Gruppe Wanderer und Bergsteiger die letzten Schneefelder Großbritanniens. Ihre Daten sind für Klimaforscher von unschätzbarem Wert.

Ein Mann steht vor einem Schneefeld 
Der Schneejäger Iain Cameron ist seit seiner Jugend von den Schneefeldern in den schottischen Highlands fasziniertBild: Iain Cameron

Schon von weitem kann man es sehen. Das weiße Schneefeld reflektiert das Licht der Sonne.  Wer näher kommt, sieht die vielen Steine und den Schotter darauf. Das macht es nicht weniger attraktiv für den Schneejäger Ian Cameron. Er freut sich, diesen Flecken Schnee im Oktober zu entdecken.

Cameron ist auf dem Aonach Beag in den Highlands an der Westküste Schottlands unterwegs. Der Berg ist mit seinen 1234 Metern nur rund einhundert Meter kleiner als der Ben Nevis, der höchste Berg Großbritanniens hier ganz in der Nähe.

Cameron nimmt den Rucksack von seinen Schultern und holt ein Maßband hervor. Er misst 20 Mal 30 Meter. Die Schneedecke ist ein paar Meter dick, so schätzt er. Für ein Schneefeld ist das klein. Doch es wird sich herausstellen: Es ist das einzige Schneefeld in Großbritannien, das vom vergangenen Winter übriggeblieben ist.

Das letzte Gebiet in Schottland, das ganzjährig schneebedeckt ist. Die Schneefelder sind Indikatoren für die veränderten Temperaturen in den HighlandsBild: Iain Cameron

Die Schneefelder, die sich in Schottland am längsten halten, liegen alle in unmittelbarer Nähe des Ben Nevis oder in den Cairngorms, einem Gebirgszug, 70 Kilometer weiter östlich. Doch es werden weniger. 1933 war zum ersten Mal - seit die Schneefelder dokumentiert werden - der gesamte Schnee dort oben verschwunden. Seitdem hat sich ein beunruhigendes Muster entwickelt, wie Cameron erzählt.

"Erst 1959 verschwand der Schnee das nächste Mal vollständig, dann 1996, 2003, 2006 und 2017, und auch 2019 wäre er fast geschmolzen", sagt er. "Man muss kein Genie sein, um zu sehen, dass sich das Verschwinden beschleunigt. Die Klimaforscher sagen uns, dass der Klimawandel der Grund ist."

Cameron berät Unternehmen in Gesundheits- und Sicherheitsfragen. In seiner Freizeit jedoch ist er eifriger Bergwanderer und Schottlands inoffizieller Experte für Schneefelder. Schon als Kind faszinierten den heute 48-jährigen Schneejäger die weißen Flächen, die er den ganzen Sommer über noch sehen konnte.

Cameron gehört zu einer kleinen Gruppe von Wanderern, Skifahrern und Bergsteigern, die im Sommer und Herbst diese Schneeflächen beobachten und genau im Auge behalten. Über die sozialen Medien sind sie miteinander in Kontakt. Sie alle sind Amateure. Und sie alle lieben den Schnee und die Berge. Und sie wollen die Veränderungen, die sie hier oben beobachten genau festhalten und dokumentieren.

"Es ist wichtig und faszinierend zugleich, all die Beobachtungen festzuhalten", sagt Cameron. "Und es gibt einem das Gefühl von einem konkreten Ziel, wenn man in die Berge geht."  Über seine Beobachtungen hat er auch ein Buch geschrieben. "The Vanishing Ice" bedeutet übersetzt: das schwindende Eis.

Schwindender Schnee

Ende des 19. Jahrhunderts begannen Bergsteiger des Scottish Mountaineering Club damit, Schneefelder zu dokumentieren. Die wissenschaftliche Untersuchung dazu begann in den 1940-er Jahren. Cameron und seine Mitstreiter liefern ihre Daten seit 25 Jahren an die Royal Meteorological Society des Vereinigten Königreichs. Diese gemeinnützige wissenschaftliche Vereinigung veröffentlicht die Ergebnisse jedes Jahr in ihrem Bericht.

Die Schneefelder sind ein Indikator für Temperaturschwankungen in den schottischen Bergen. Sie gehören zu den bis zu 47 Millionen Quadratkilometern der Erde, die  jeden Winter mit Schnee bedeckt sind.

 Die weiße Oberfläche des Schnees reflektiert das Sonnenlicht und trägt so zur Abkühlung des  Planeten bei. Durch das Schmelzen des Schnees bleibt der Wasserstand der Flüsse auch bei trockenem Wetter stabil. 

Wärmeres Wasser beeinträchtigt die Fortpflanzung der Forellen und Lachse, für die Schottland berühmt istBild: David Cheskin/PA/picture alliance

In den schottischen Bergen gibt es weder Gletscher noch permanente Schneefelder. Aber in den meisten Jahren schaffen es einige von ihnen in den nächsten Winter. Im Frühjahr und Sommer kühlt die Schneeschmelze das Wasser von Flüssen wie des Spey. Er ist berühmt für seinen Lachs. Aber das Wasser im Fluss ist bereits wärmer geworden. Grund ist die von Jahr zu Jahr geringer werdende Schneedecke in den Bergen. Fische wie Lachse und Forellen vermehren sich in dem wärmeren Wasser weniger gut.

Laut einer statistischen Studie von Mike Spencer von der Universität Edinburgh hat die Schneedecke in den Cairngorms in den vergangenen 35 Jahren deutlich abgenommen. Laut Spencer könnte es dort bis 2080 Winter ohne nennenswerte Schneemengen geben. Für seine Studie hat der Wissenschaftler zahlreiche andere Daten als die von Cameron zugrunde gelegt.

Unbezahlbare "Bürgerwissenschaft"

Auch Helen Rennie ist Schneejägerin. Die 68-jährige aus Inverness bemerkte die immer kleineren Schneefelder, während ihres   rekordverdächtigen Unterfangens, zehn Jahre lang jeden Monat in den schottischen Bergen Ski zu fahren.

2009 begann sie damit und musste die Aktion im Jahr 2020 wegen der Corona-Pandemie unterbrechen. Jetzt steigt sie wieder zu den Schneefeldern hinauf, wann immer sie kann. "Der Schnee muss sich im Laufe des Jahres ansammeln, damit die Felder stabil sind und auch erhalten bleiben", sagt sie. "Es gibt so viele Variablen bei den Schneefeldern: die Richtung, aus der der Schnee kommt; das Wetter nach dem Schneefall. Gibt es viele Frost-Tau-Zyklen, verfestigt sich der Schnee zu Eis. Wenn es dauerhaft kalt ist, bleibt er weich und locker."

Schneejäger wie Cameron und Rennie sagen, dass sie eine emotionale Bindung zu den Highlands habenBild: Iain Cameron

Der Schneeforscher Alex Priestley von der Universität Edinburgh untersucht, wie der Schnee schmilzt und wie sich das auf die Schneedecke in Schottland und den Alpen auswirkt. Da meist Wollen über den schottischen Berge hängen, sind Satellitenbilder für Studien zur Schneedecke nur bedingt brauchbar. Das macht die Daten von Schneejägern wie Rennie und Cameron so unschätzbar wertvoll.

"Es ist wirklich wichtig zu verstehen, welche Auswirkungen das sich ändernde Klima auf diese abgelegenen Orte hat. Denn ein Großteil der biologischen Vielfalt hängt davon ab", sagt Priestley.

So sei der Mornellregenpfeifer, ein Zugvogel, der die Sommermonate regelmäßig in den schottischen Bergen verbringt, inzwischen vom Aussterben bedroht, erklärt Priestley weiter.

"Sobald es wärmer wird, würde sich der Vogel, wäre er in den Alpen, einfach ein paar hundert Meter höher niederlassen und wäre so wieder in seiner Wohlfühlumgebung. Aber hier in Schottland, wo sich die Mornellregenpfeifer in einer Höhe von 1200 Metern aufhalten, ist dann Schluss. Dann gehen ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die Berge aus."

Mit genauen Daten über die Schneefelder kann man auf Veränderungen der Schneedecke insgesamt schließen. Mit diesen Ergebnissen wiederum kann man schauen, inwieweit es hier Wechselwirkungen mit dem Verhalten von Wildtieren gibt, erklärt er weiter.

"Dass wir Zugriff auf die Daten der Schneejäger haben, ist fantastisch. Das sind ja im Prinzip langjährige Beobachtungsreihen, und das von sehr abgelegenen Orten. Es wäre schwierig, auf anderem Wegen an solche Daten zu kommen." 

Glaziologen erforschen einen Gletscherhohlraum in Österreich. Dass Gletscher schwinden und Schnee früher schmilzt, beeinflusst die Temperaturen in den FlüssenBild: Lisi Niesner/Reuters

Harte Realitäten

Ende November fegte eine kalte Sturmfront über die Highlands hinweg. Das Schneefeld auf dem Aonach Beag war bis dahin auf 15 Meter heruntergeschmolzen. Jetzt verschwindet die Fläche einfach unter dem Neuschnee. 2021 gilt nun als ein Jahr, in dem die Schneefelder die Sommermonate überstanden haben.  

Die Schneejäger sind erleichtert. Sie hatten befürchtet, dass alle Flecken bis zum Wintereinbruch weggeschmolzen sein würden. Aber Cameron weiß, dass das in den kommenden Jahren passieren wird - und zwar immer häufiger.

"Für jemanden, der diesen Ort seit Jahrzehnten kennt und besucht, entwickelt sich eine unglaubliche Nähe. Man hat eine beinahe irrationale Bindung zu diesem Ort", sagt Cameron. "Den anderen geht es auch so. Nur kommt zu unseren emotionalen und auch wissenschaftlichen Erfahrungen mehr und mehr diese unendliche Traurigkeit."

Energiewende auf den Shetlands

05:15

This browser does not support the video element.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen