Schottland, der Brexit und Europa
21. Juni 2016 Während des Unabhängigkeitsreferendums im September 2014 war Schottland bunt . Beide Seiten, Befürworter und Gegner der Unabhängigkeit, hatten zahllose Fenster mit Plakaten und Aufklebern versehen. Am Stichtag selbst beteiligten sich rund 85 Prozent der stimmberechtigten Schotten. Rund 55 Prozent sprachen sich dafür aus, im Vereinigten Königreich zu bleiben.
Nun, wenige Tage vor dem Referendum der Briten über ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Union, ist die politische Stimmung anders. Dieses Mal fordern nur wenige Fahnen oder Autoaufkleber dazu auf, für oder gegen den Austritt zu stimmen.
Keine Europa-Obsession
Zwar deuten viele Umfragen darauf hin, dass zwei von drei Schotten für den Verbleib in der EU stimmen. Doch bislang gehen Experten von einer geringen Wahlbeteiligung aus.
"Die in England gängige Besessenheit im Hinblick auf Europa gibt es in Schottland nicht", sagt Michael Keating, Professor für Politik an der Universität Aberdeen. "Nicht einmal die Euroskeptiker in Schottland haben ein so obsessives Verhältnis zum Kontinent wie die Engländer. Die Frage ist hier einfach nicht so wichtig. Und sie polarisiert die Menschen auch nicht so", sagt Keating im Gespräch mit der DW.
Für Verbleib in der EU
Die politischen Parteien in Schottland sind überwiegend für die EU. Während die englischen Konservativen über das Referendum zerstritten sind, herrscht im schottischen Parlament weitgehende Einigkeit. Bei einer Debatte vor wenigen Tagen stimmten im Parlament in Edinburgh die allermeisten Parlamentarier für den Verbleib in der EU. Selbst die schottischen Konservativen sind proeuropäisch - ganz im Gegensatz zu ihren Kollegen in Westminster.
EU-Gegner zerstritten
Auch in Schottland werben die Befürworter eines Austritts mit Themen wie Einwanderung und Eigenständigkeit. Doch in Schottland leben erheblich weniger Migranten als im übrigen Großbritannien. Zudem ist man auf Einwanderung angewiesen, um die alternden Arbeitnehmer durch junge zu ersetzen. Und von Edinburgh betrachtet, ist die Entfernung zu den anonymen Brüsseler Bürokraten viel größer als vom Südosten Großbritanniens aus.
Außerdem hat sich die schottische Anti-EU-Koalition durch fehlende Einigkeit selbst Steine in den Weg gelegt. Der schottische Zweig der "Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs" (UKIP) ist durch Grabenkämpfe zerrissen. Der ehemalige stellvertretende Führer der "Schottischen Nationalpartei" (SNP), Jim Sillars, ist praktisch der einzige hochkarätige Vertreter seiner Partei, der für einen Austritt ist.
Kein Krieg mehr in Europa
Umfragen geben zu erkennen, dass zwei Drittel der Schotten und die überwiegende Mehrheit der Unternehmer für einen Verbleib in der der EU sind. "Wir hatten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keinen großen Krieg mehr in Europa. Das liegt zu großen Teilen an der Europäischen Union", sagt der 29-jährige Umweltwissenschaftler Adrian Moore aus Glasgow.
Wie viele andere sieht Moore starke Parallelen zwischen der Abstimmung des Jahres 2014 und dem bevorstehenden Entscheid. "Die Kampagnen haben eine stark polarisierende Wirkung. Ich sähe es sehr gerne, wenn ein Politiker sagen würde: 'Wir sollten in der EU bleiben. Aber wenn wir gehen, wird uns unser Land trotzdem erhalten bleiben.'"
Anders als beim Referendum über die Unabhängigkeit haben die 16- und 17-Jährigen dieses Mal kein Stimmrecht - ebenso wenig in Großbritannien lebende EU-Bürger. "Ich darf nicht wählen", sagt Marco Weber. Der Deutsche lebt seit zehn Jahren in Glasgow. "Doch wenn ich wählen könnte, würde ich für den Verbleib in der EU stimmen", sagte er im Gespräch mit der DW. "Europa muss stark sein, nicht schwach."
Neue Debatte zur schottischen Unabhängigkeit denkbar
Wenn die Engländer für einen Austritt aus der EU stimmen, könnte das auch die Debatte um die Unabhängigkeit Schottlands neu entfachen. Umfragen deuten darauf hin, dass die Nationalisten in diesem Fall gewinnen könnten. Doch weil Fragen rund um Währung und Wirtschaft nach wie vor offen sind, ist die Lust auf eine neue Abstimmung begrenzt.
Doch auch wenn die Nationalisten triumphieren würden, wäre das Verhältnis zum Nicht-EU-Mitglied England schwierig. Ein unabhängiges Schottland würde sicherlich der EU beitreten. Aber es hätte dann statt der bislang offenen eine stärker kontrollierte Grenze zu England.
Zugleich könnte die schottische Unterstützung für die EU auch die schmale Mehrheit kippen, die bislang für einen Austritt aus der Union stimmt. Auf diese Weise bliebe das Vereinte Königreich dann doch Mitglied der Europäischen Union. In einem solchen Fall könnte allerdings auch der Nationalismus südlich der schottisch-englischen Grenze wachsen.
Näher an Brüssel als an London
Bei einem Brexit würde zudem ein großer Teil der politischen Entscheidungen im Bezug auf Schottland - etwa im Bereich Landwirtschaft und Fischerei - von Brüssel nach Edinburgh gehen, und nicht nach London.
Selbst wenn das Vereinigte Königreich die EU verließe, könnte ein von Nationalisten dominiertes schottisches Parlament dafür stimmen, sich an europäische Verordnungen und Gesetze zu halten - und zwar auch dann, wenn es formal außerhalb der Union stünde. "Wenn die Schotten weiter in Europa mitspielen wollen, könnten sie sich fortan eher nach Brüssel als nach London richten", sagt Politikwissenschaftler Michael Keating von der Universität Aberdeen.
Die meisten Schotten hoffen indessen, dass es so weit nicht kommt. Die Sorgen über eine Zukunft außerhalb der Europäischen Union könnte viele schottische Wähler motivieren, ihre Stimme abzugeben. Das könnte erheblichen Einfluss auf das Ergebnis haben - für Schottland, für das gesamte Vereinigte Königreich und für die EU.