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Politik

Schreckensszenarien vor dem Brexit

1. November 2017

Die Brexit-Gespräche kommen nicht vom Fleck - doch die Uhr tickt. Während sich die EU hart zeigt, schwimmen den Briten die Felle davon. Neue Zahlen dokumentieren, wie ernst die Lage wirklich ist.

England Stadtansicht London
Zehntausende Arbeitsplätze wackeln: City of London (Archivbild)Bild: Reuters/P. Nicholls

350 Millionen Britische Pfund - umgerechnet 400 Millionen Euro: Diese Summe könne man jede Woche sparen, hatten die Brexiteers versprochen, um dem Volk den Abschied von Brüssel schmackhaft zu machen. Das Geld, so die Brexit-Einpeitscher, solle man lieber ins Gesundheitswesen stecken. Die Einwohner des Vereinigten Königreichs ließen sich beim Referendum 2016 auf die Beteuerungen ein; 52 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf den Ausstieg aus der Europäischen Union.

Doch je länger die Verhandlungen zwischen London und Brüssel auf der Stelle treten, desto mehr lösen sich die Versprechungen der EU-Gegner in Luft auf - und das schon 17 Monate vor dem angestrebten EU-Austritt im März 2019. So legt das Office für National Statistics nun Berechnungen vor, wonach die Nettozahlungen der Briten an die EU im vergangenen Jahr 9,4 Milliarden Pfund (11 Milliarden Euro) betrugen. Das sind gerade einmal 180 Millionen Pfund (205 Millionen Euro) pro Woche, also etwa die Hälfte der Summe, die die Brexit-Befürworter damals in die Debatte warfen. "Weitab vom Ziel" sei diese Zahl gewesen, formuliert die Statistikbehörde mit steifer Oberlippe.

Stellenabbau im großen Stil

Noch weitaus düsterer sind die Schätzungen der britischen Notenbank. Sie erwartet, dass in der Zeit nach dem EU-Austritt bis zu 75.000 Arbeitsplätze in der heimischen Finanzbranche verlorengehen. Das scheine vor allem dann realistisch, wenn es mit der EU zu keiner besonderen Vereinbarung im Hinblick auf Finanzdienstleistungen komme, sagte Zentralbank-Vize Sam Woods vor einem Ausschuss des Oberhauses. Bei britischen Finanzdienstleistern und Versicherungen sind insgesamt rund 1,1 Millionen Menschen beschäftigt, die meisten davon allerdings im Inlandsgeschäft.

Düstere Prognosen: Bank of England (Archivbild)Bild: picture-alliance/empics/Y. Mok

Einige Unternehmen haben schon jetzt Mitarbeiter aus Großbritannien abgezogen. Aber auch das Geld, das bisher auf die Insel floss, nimmt immer häufiger andere Wege. So belegt eine Untersuchung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers (PwC), dass Deutschland nach der Brexit-Entscheidung zum Top-Standort für Immobilieninvestitionen geworden ist - und damit die Briten von Platz eins verdrängt hat.

Demnach lag in den vergangenen zwölf Monaten das Investitionsvolumen in der Bundesrepublik bei 68 Milliarden Euro, nach 54 Milliarden Euro im Vorjahr. In Großbritannien sanken die Investitionen dagegen von 66 auf 64 Milliarden. Was lange Zeit undenkbar schien, könnte wahr werden: In London dürften als einziger europäischer Metropole die Mieten fallen. PwC sieht vor allem Frankfurt am Main als Profiteur des Brexit. Dort bauen Investmentbanken wie Goldman Sachs und J. P. Morgan ihre Standorte aus.

Vorbereitet auf das Schlimmste

Der Druck auf die britische Regierung wächst angesichts solcher Daten und Szenarien mit jedem Tag. Dass die Briten sich nicht "englisch verabschieden" können, war von Anfang an klar. Aber dass es derart schwer sein würde, der EU Zugeständnisse abzuringen, hat wohl auch die Pessimisten auf der Insel überrascht. Premierministerin Theresa May hatte schon vor einem Monat die Öffentlichkeit sanft auf das Schlimmste vorbereitet: Auch für den Fall eines chaotischen Austritts aus der Europäischen Union sei man vorbereitet, erklärte sie. Die Ministerien stellten Pläne auf für den Fall, dass es zu keiner Vereinbarung mit der EU komme, so die angeschlagene Regierungschefin.

Unterschiedliche Perspektiven: Brexit-Minister David Davis (links) und EU-Verhandler Michel Barnier (Archivbild)Bild: Reuters/F. Lenoir

Jetzt haut ihr Brexit-Minister David Davis in dieselbe Kerbe. Es sei zwar "sehr, sehr unwahrscheinlich", dass sich beide Seiten bei den Verhandlungen nicht auf ein formelles Abkommen über die Handelsbeziehungen nach dem Austritt verständigen könnten. Doch was auch immer passiere, Großbritannien werde auf jeden Fall einen "Basis-Deal" mit der Gemeinschaft erzielen, notfalls "ohne die Teile, die wir wirklich wollen". Solch eine Rumpfvereinbarung könne etwa den Bereich Luftfahrt umfassen - so dass Flugzeuge zwischen Großbritannien und der Europäischen Union auch weiter fliegen könnten.

Bisweilen zeigt sich die Dramatik einer Situation daran, dass Selbstverständlichkeiten eigens erwähnt werden müssen. Eineinhalb Wochen, nachdem die EU die Briten dahin gehend beschied, dass die Verhandlungsfortschritte bisher nicht ausreichten, um in die nächste Phase einzutreten, und Theresa May auf Dezember vetrösteten, scheint dieser Zeitpunkt gekommen.

jj/rb (dpa, ap, rtr)

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