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Schrei nach Freiheit: das Erbe des 17. Juni 1953

17. Juni 2023

70 Jahre nach dem Volksaufstand in der DDR kämpft die Ukraine um ihre Unabhängigkeit. Damals herrschte Kalter Krieg in Europa, 2023 ist es ein Angriffskrieg.

Volksaufstand in Ost-Berlin am 17. Juni 1953
Demonstranten vor sowjetischen T-34-Panzern am "Haus der Ministerien", Leipziger Straße, Ost-BerlinBild: Röhnert/Keystone/picture alliance

Was hat der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit dem gescheiterten Volksaufstand in der kommunistischen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) am 17. Juni 1953 zu tun? Im engeren Sinne nichts. Aber wenn man den Blick weitet, lassen sich bei allen Unterschieden der historischen Umstände ähnliche Motive erkennen. Sowohl auf Seiten der Aggressoren mit ihren imperialistischen Machtansprüchen als auch auf Seiten der um Freiheit und Unabhängigkeit kämpfenden Menschen. 

Nach dem 1945 beendeten Zweiten Weltkrieg gab es im globalen Maßstab – grob betrachtet – zwei verfeindete Lager: kapitalistische Demokratien und kommunistische Diktaturen. An der Spitze die Supermächte USA und Sowjetunion. Zusammen mit Großbritannien und Frankreich hatten sie Nazi-Deutschland besiegt.

Altes und neues Machtzentrum: Moskau

Nach dem militärischen Erfolg trennte sich das gegen Adolf Hitler geschmiedete Zweckbündnis wieder. Die Sowjetunion dehnte ihren Macht- und Einflussbereich aus: Große Teile Europas wurden kommunistisch. Darunter der Osten Deutschlands, die DDR. Das Machtzentrum für diesen sogenannten Ostblock lag in Moskau, der damaligen sowjetischen und heutigen russischen Hauptstadt.

In dieser Zeit etablierte sich der Begriff Kalter Krieg. Gemeint war damit ein mehr oder weniger spannungsgeladenes Verhältnis zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion sowie den sie unterstützenden Ländern. Die politisch-ideologische Trennlinie in Europa verlief mitten durch Deutschland und das ebenfalls geteilte Berlin.

Marktwirtschaft im Westen, Planwirtschaft im Osten

Hier waren die Folgen des mit militärischer Aufrüstung und Drohgebärden geführten Duells besonders stark sichtbar: Während sich die Bundesrepublik mit ihrer freien Marktwirtschaft materiell recht schnell von den Kriegsfolgen erholte, führte die staatlich gelenkte Planwirtschaft in der DDR zu Versorgungsengpässen, der sich viele durch Flucht in den Westen entzogen.

Freie Wahlen in der kommunistisch regierten DDR forderten die Menschen am 17. Juni 1953 in den Straßen Ost-BerlinsBild: akg-images/picture-alliance

Am 17. Juni 1953 eskalierte die Lage: Nach vereinzelten Protesten gegen die zunehmende Misswirtschaft entlud sich der Frust überall in Ostdeutschland. Geschätzt eine Million Menschen beteiligten sich am Volksaufstand, forderten freie Wahlen und die Deutsche Einheit. Aber ihr Schrei nach Freiheit verhallte erfolglos.

Sowjetische Panzer beendeten den Traum von Freiheit

Die Machthaber in Moskau ließen den Volksaufstand mit ihren in der DDR stationierten Panzern und Soldaten niederwalzen. Über 100 Menschen kamen bei Auseinandersetzungen auf der Straße ums Leben oder wurden später zum Tode verurteilt. Viele landeten für Jahre im Zuchthaus.

17. Juni 1953 - der Volksaufstand in der DDR

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Vergleichbare Schicksale erlitten die Freiheitsbewegungen in Ungarn (1956), der Tschechoslowakei (1968) und Polen (1980). Alle Versuche, sich aus den Fesseln Moskaus zu befreien, scheiterten. Erst durch die Politik des Moskauer Reformkommunisten Michail Gorbatschow schöpften die Menschen in den Ostblock-Staaten neuen Mut. In Deutschland führte die Friedliche Revolution 1989 zum Fall der Berliner Mauer und ein Jahr später zur Wiedervereinigung.

Putin spricht der Ukraine das Existenzrecht ab

Auch die 1917 gegründete Sowjetunion näherte sich ihrem Ende, wurde 1991 aufgelöst. Unter den 15 seitdem unabhängigen Staaten: die Ukraine. Ein Land, dem der russische Machthaber Wladimir Putin das Existenzrecht abspricht und das er deshalb am 24. Februar 2022 völkerrechtswidrig überfallen hat. Schon 2014 war die ukrainische Halbinsel Krim annektiert worden - weitgehend gewaltlos, aber ebenfalls völkerrechtswidrig. 

Vor 70 Jahren, am 17. Juni 1953, scheuten sich die westlichen Demokratien unter Führung der USA, den Volksaufstand in der DDR zu unterstützen. Viel zu groß war die Angst vor einem mit Atomwaffen geführten Dritten Weltkrieg. Eine Sorge, die viele Menschen auch nach der Invasion Russlands in die Ukraine umtreibt.

Freiheitsversprechen: NATO und EU

Trotzdem haben sich viele Staaten und das Nordatlantische Verteidigungsbündnis (NATO) dazu entschlossen, die um ihre Freiheit und Unabhängigkeit kämpfende Ukraine militärisch mit Waffenlieferungen zu unterstützen und politisch mit der Perspektive, Mitglied der Europäischen Union (EU) zu werden. Beides ist ein Versprechen auf eine bessere Zukunft, für die allerdings niemand garantieren kann.

Rund 10.000 Menschen im freien West-Berlin versammelten sich aus Solidarität mit den demonstrierenden Ost-BerlinernBild: Günter Bratke/picture alliance

Als die Menschen in der DDR am 17. Juni 1953 gegen ihre Regierung und zugleich gegen die sowjetische Besatzungsmacht aufbegehrten, beließ es der freie Westen Deutschlands bei moralischer Unterstützung. Geopolitisch gab es damals wohl keine andere Möglichkeit. Die Entscheidungsgewalt lag bei der Sowjetunion und den USA. Das Duell zwischen Kapitalismus und Kommunismus basierte auf dem sogenannten Gleichgewicht des Schreckens.

Waffenlieferungen und Flüchtlingshilfe

Damit war die militärische Patt-Situation gemeint, bei der keine Seite eine realistische Aussicht auf einen Sieg hatte. Ob das 2023, im zweiten Jahr des Ukraine-Kriegs, anders ist, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Davon abgesehen zögerte die westliche Staaten-Gemeinschaft dieses Mal zu keinem Zeitpunkt, die Ukraine in ihrem Freiheitskampf gegen den Aggressor Russland mit Waffen und der Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen.

Die Voraussetzungen dafür sind allerdings auch andere als in den Zeiten, als Europa politisch und wirtschaftlich in Ost und West geteilt war. Die kommunistischen Diktaturen sind Vergangenheit. Sie wurden Jahrzehnte nach den niedergeschlagenen Volksaufständen in der DDR und anderen Ländern von freiheitsliebenden Menschen friedlich überwunden.

Ohne Mut keine Freiheit und Unabhängigkeit

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 hat dabei – trotz seines Scheiterns – einen festen Platz in der Geschichte: als Vorbild für alle späteren Versuche, frei und unabhängig zu werden oder zu bleiben. 70 Jahre danach erinnert sich das wiedervereinigte Deutschland mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen an das tragische Ende, aber vor allem an den Mut der Menschen. Dabei den Bogen zu spannen zum Freiheitskampf der Ukraine, ist naheliegend. 

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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