Zum Tode von Ilse Aichinger
11. November 2016Es mag ein Widerspruch sein, wenn eine Schriftstellerin der Sprache gegenüber skeptisch ist. Eine Autorin, von der Aussagen stammen wie: "Ich wollte nie Schriftstellerin werden" oder "Schreiben ist kein Beruf". Und doch gehörte Ilse Aichinger zweifellos zu den großen Stimmen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.
Zum Schreiben gekommen ist sie aus der Not. Sie musste das loswerden, was sie erlebt hatte. Geboren 1921 in Wien, die Mutter war Jüdin, die Eltern ließen sich 1927 scheiden. Nach dem Anschluss Österreichs sah sich die Familie der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt. Ilse Aichinger versteckte die Mutter zeitweise in Wien, was sie in große Gefahr brachte. Doch im Gegensatz zu anderen Familienmitgliedern, die deportiert wurden und in Konzentrationslagern starben, überlebte Ilse Aichinger die Zeit.
Ein Medizinstudium brach sie ab, auch weil sie anfing aufzuschreiben, was sie erlebt hatte in den Jahren bis 1945. "Die größere Hoffnung" erschien 1948, ein Roman - es sollte ihr einziger bleiben -, der notierte, was geschah. Aber anders als ihre schreibenden Kollegen war das nüchterne Protokollieren des Schreckens nicht ihre Sache. Ihr Stil war von Anfang an lyrisch und allegorisch, geheimnisvoll, verrätselt und poetisch. Verschiedene stilistische Merkmale griffen ineinander.
Abstrakt, aber doch eindringlich
Dabei verzichtete Ilse Aichinger auch auf eine allzu offenkundige Benennung der Fakten. "'Die größere Hoffnung' ist, wie Ilse Aichingers Biografie erkennen lässt, ein autobiografisches Buch", so beschrieben es Heinz F. Schafroth und Simone Fässler, zwei Kenner ihres Werks: "Eines allerdings, in dem die Dinge nicht beim Namen genannt werden, in dem Sinne nicht, das z.B. die Stadt keinen Namen hat, die Juden nicht die Juden und die Nazis nicht Nazis heißen."
Sie habe eigentlich zunächst nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben wollen, notierte Ilse Aichinger später: "An ein Buch habe ich gar nicht gedacht, ich wollte nur alles so genau wie möglich festhalten." Auch damals klang schon Sprachskepsis an: "Als das Buch dann bei 'Fischer' erschienen ist, stand noch immer zu viel drin, ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig."
Eine Frau im Club der schreibenden Männer
Drei Jahre nach Erscheinen des Romans wurde Ilse Aichinger zur "Gruppe 47" eingeladen, damals vor allem ein Club der schreibenden Männer. Dort lernte sie auch den Dichter Günter Eich kennen, den sie 1953 heiratete und mit dem sie zwei Kinder hatte. Ihre weiteren literarischen Arbeiten waren dann konsequenterweise auch von der Kürze geprägt. Erzählungen vor allem, auch Lyrik. Darüberhinaus schrieb die Aichinger zahlreiche Hörspiele und auch Essays. Ihr schriftstellerisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen bedacht, so erhielt sie unter anderem den Preis der Gruppe 47, den Petrarca-Preis, den Franz-Kafka-Preis, den großen Österreichischen Staatspreis für Literatur und im Jahr 2000 noch den hochdotierten Joseph-Breitbach-Preis.
Der Öffentlichkeit entzog sich die Schriftstellerin mehr und mehr, obwohl sie Mitglied im PEN-Zentrum und in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung war. "Dieses öffentliche Leben mochten sie beide nicht, weil sie beide schüchtern und zurückhaltend waren", sagte die Tochter Mirjam einmal über ihre Eltern. Das kam bei Ilse Aichinger auch beim Schreiben zum Ausdruck. "Schreiben kann eine Form zu schweigen sein", sagte die Autorin, die nach dem Krieg noch eine ganz andere Form fand, sich dem öffentlichen Leben zu entziehen.
Verschwinden in der Anonymität des Kinosaals
Ilse Aichinger ging ins Kino. Sie wurde zu einer große Freundin der siebten Kunst, Texte wie "Film und Verhängnis" stehen dafür. "Die Kinogängerin" hieß eine eindrucksvolle Dokumentation von Norbert Beilharz aus dem Jahre 2001 über die Dichterin und ihr Hobby.
Jetzt ist die große Schriftstellerin und Sprachskeptikerin Ilse Aichinger mit 95 Jahren in ihrer Heimatstadt Wien gestorben.
jk/ash (mit Agenturen/Munzinger)