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PolitikAlgerien

Schriftsteller Boualem Sansal: Hintergründe einer Verhaftung

26. November 2024

Mitte November wurde in Algier der algerisch-französische Schriftsteller Boualem Sansal festgenommen. Seine Verhaftung spiegelt nicht zuletzt die internationalen Spannungen zwischen Algerien und Frankreich wider.

Der Schriftsteller Boualem Sansal, Paris, April 2024
Verhaftet und an unbekanntem Ort in Algerien festgehalten: der algerisch-französische Schriftsteller Boualem Sansal (Archivbild)Bild: Pierrick Villette/ABACA/picture alliance

Fast eine Woche lang rätselte man in Algerien über den Verbleib von Boualem Sansal. Dann, am vergangenen Freitag (22. November 2024), gab der algerische Staat über die nationale Nachrichtenagentur Algérie Presse Service (APS) bekannt, dass der algerisch-französische Schriftsteller am Samstag zuvor am Flughafen von Algier verhaftet worden war. Über die Gründe für die Verhaftung oder über seinen Aufenthalt schweigen die Behörden.

Doch der Text, den die Nachrichtenagentur verbreitet, ist mehr als eine nüchterne Mitteilung: Er ist eine in wüsten Worten gehaltene Beschimpfung des Schriftstellers und auch einiger Teile der französischen Öffentlichkeit - nämlich jener, die sich für die Freilassung Boualem Sansals einsetzen. APS spricht von Boualem Sansal als "von der französischen Rechtsextremen verehrtem Pseudo-Intellektuellem", unterstützt von der "anti-algerischen" Szene des Landes.

Schwieriger Dialog: der französische Präsident Emmanuel Macron (l.) und sein französischer Amtskollege Abdelmadjid Tebboune, Algier, 2022Bild: Ludovic Marin/AFP/Getty Images

Anschließend schlägt APS einen großen Bogen: Die Agentur spricht von "La France Macronito-Sioniste", einem "durch Macron und den Zionismus geprägten Frankreich", das sich nun über die Verhaftung Sansals errege. Im gleichen Atemzug stellt die Regierung der Meldung zufolge infrage, ob Frankreich die "nötige Souveränität" besitze, den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag gegen Benjamin Netanjahu auszuführen, sollte der israelische Premier französischen Boden betreten.

Internationale Hintergründe

Es scheint, als sei der Schriftsteller, der seit einiger Zeit auch die französische Staatsbürgerschaft hat, gleich zwischen mehrere internationale Fronten geraten. "Seine Verhaftung hat mit der kritischen Stimmung zwischen Frankreich und Algerien zu tun", sagt der an der Universität Göttingen lehrende Politologe Rachid Ouaissa. Er verweist darauf, dass Algerien im Juli dieses Jahres seinen Botschafter aus Frankreich abgezogen hat. Dieser Konflikt wiederum geht auf den Marokkos auf das Gebiet Westsaharas zurück. Frankreich ist dabei auf Seiten Marokkos, Algier lehnt man das ab.

Frankreich unterstützt den Anspruch Marokkos auf das Gebiet Westsahara, Algerien unterstützt die Separatisten. Aus Sicht der deutschen Regierung ist der völkerrechtliche Status der Westsahara ungeklärt.

Zudem sei die algerische Regierung auch aufgrund der Wiederwahl von Donald Trump nervös, so Ouaissa weiter. Dies gelte unter anderem mit Blick auf die Normalisierungsabkommen zwischen mehreren arabischen Staaten und Israel, die Trump in seiner ersten Amtszeit als US-Präsident (2017 bis 2021) initiiert hatte. Seither geht die Regierung in Algier auf erhebliche Distanz zu Israel. Auch dies dürfte bei der Verhaftung eine Rolle gespielt haben, so Ouaissa.

Ein problematisches Interview

Inmitten dieser Spannungen hatte Sansal, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2011, dem als rechtsextrem geltenden YouTube-Kanal "Frontières" (Deutsch: "Grenzen"; ehemals "Livre Noir", "Schwarzbuch") ein Interview gegeben. Darin deutete er Zweifel an der historischen Rechtmäßigkeit des algerischen Staatsgebiets an. Ein Teil, gab er zu verstehen, gehöre aus geschichtlicher Perspektive zu Marokko. Französische Medien, so etwa die Zeitung "Libération", werten diese Äußerungen als ausschlaggebend für die Verhaftung.

Sansals Ausführungen seien unzutreffend, sagt der algerisch-französische Autor Kamel Bencheikh. Sein Kollege sei historisch offenbar nicht hinreichend informiert, deutet Bencheikh im Gespräch mit der DW an. Zugleich zeige aber der von APS veröffentlichte Text, dass die algerische Regierung Oppositionelle weiterhin dämonisiere. "Die dabei verwendeten Begriffe sind nicht neu. Ganz wesentlich richten sie sich an die algerische Gesellschaft selbst", sagte Bencheikh, der sich zurzeit an der Gründung eines Unterstützungskomitees für Boualam Sansal beteiligt.

Ähnlich sieht es auch der Schriftsteller Najem Wali, Vizepräsident des Writers in Prison-Programms des deutschen PEN-Programms der internationalen Schriftsteller-Vereinigung P.E.N. deutschen PEN. Die Äußerungen Sansals wie auch der Ort des Interviews dürfte nicht nur für die algerische Regierung, sondern auch die algerische Gesellschaft eine Provokation gewesen sein, so Wali zur DW. "Aber das rechtfertigt selbstverständlich keine Verhaftung."

Zwischen Kultur und Politik: Boualem Sansal, hier bei einer Lesung in Straßburg, 2024Bild: Nicolas Roses/ABACA/picture alliance

Couragierter Kritiker

Seit seinem ersten, 1999 erschienen Roman, Le Serment des Barbares ("Der Schwur der Barbaren") gilt der auf Französisch schreibende Sansal als einer der bedeutendsten Autoren der algerischen Gegenwartsliteratur. Immer wieder hat er sich in seinen komplexen, durch moderne Erzähltechniken geprägten Romanen mit den Missständen in Algerien auseinandergesetzt - mit Korruption, Machtmissbrauch, sozialer Ungleichheit ebenso wie mit dem politischen Islam. Sein erster Roman etwa handelt von dem verheerenden Bürgerkrieg infolge der für ungültig erklärten Wahlen im Dezember 1991. Hintergrund war ein sich abzeichnender Sieg der islamistischen "Islamischen Heilsfront". 

Durch seine Kritik machte sich Sansal bei den Regierungen seines Landes ebenso unbeliebt wie bei den Islamisten. Dennoch lebte er weiterhin in Algerien. In seinem Buch "Le Village de l'Allemand" ("Das Dorf des Deutschen") zieht er eine Parallele zwischen dem Terror des Nazi-Regimes und der islamistischen Gewalt. Im Jahr 2019 unterstützte er die vor allem von jungen Menschen getragene Protestbewegung Hirak, in deren Folge der damalige Präsident Abdelaziz Bouteflika zurücktrat. Sansals Werke sind in Algerien nicht erhältlich.

Boualem Sansal habe wiederholt bewiesen, dass er die Angst vor politischer Unterdrückung nicht verinnerliche, erklärte Jean-François Colosimo, Herausgeber seines neuesten Buches "Le Français, parlons-en!", der französischen Zeitung Libération. "Vielleicht hatte er unterschätzt, dass er zur Geisel eines solchen geopolitischen Konflikts werden könnte."

Ein Hintergrund der Verhaftung: der Westsahara-Konflikt. Im Bild: Kämpfer des für die Unabhängigkeit der Region streitenden Frente Polisario (Archivbild 2023)Bild: Guidoum Fateh/AP Photo/picture alliance

Warnung nach innen

Die Verhaftung von Boualem Sansal erfolgt in einem Kontext entschiedenen Vorgehens gegen Journalisten und Schriftsteller. Zuletzt war der - noch nicht auf Deutsch erschienene Roman Houris des algerischen Schriftstellers Kamel Daoud in seiner Heimat verboten worden. Darin bezieht er sich - wie Boualem Sansal in seinem Erstlingswerk - auf die Gewalt im Algerien der 90er Jahre.

Ein Vorgehen wie das der algerischen Behörden sei in weiten Teilen der arabischen Welt an der Tagesordnung, sagt Najem Wali von Writers in Prison. "Ein Schriftsteller äußert eine der jeweiligen Regierung nicht genehme Ansicht, und die diffamiert das dann als Verrat, und zwar ganz unabhängig davon, ob die Äußerung zutrifft oder nicht. Und das kann einen Autor natürlich in erhebliche Bedrängnis bringen."

Mit der Verhaftung Sansals demonstriere die algerische Regierung ihre Entschlossenheit, sagt Kamel Bencheikh. "Und diese Botschaft richtet sie natürlich auch an die Opposition im Inneren. Wir können einen weltberühmten Schriftsteller verhaften, lautet die Botschaft. Erst recht können wir es dann mit allen anderen aufnehmen."

Frankreichs Sühne

03:22

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Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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