Krieg und Zerstörung hinterlassen Risse, die Schriftsteller mit Worten zu füllen versuchen. Zum Welttag des Buches sprachen wir mit drei Autoren aus der Ukraine, aus Belarus und dem Irak.
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Er sei ein Odysseus-Typ, sagt er von sich selbst. Denn wie die Heldenfigur aus der griechischen Mythologie ist auch der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch viel unterwegs - und genau wie der antike Krieger sehnt er sich dann nach seiner Heimat. "Ich bin immer für jede Reise bereit, besonders wenn diese mit einer Lesung verbunden ist. Ich packe meine Sachen sehr leicht und schnell, aber ich komme immer zurück. Aber im Moment bleibe ich ganz bewusst hier", sagt er. Hier: Das ist sein Zuhause in Iwano-Frankiwsk. Seit Kriegsbeginn hat Juri Andruchowytsch die Ukraine nicht verlassen, denn er sagt: "Ich habe keine andere Option."
"Ganz ungewollt sind wir zu Ihren Gewissensbissen geworden", sagte Juri Andruchowytsch in seiner Rede auf der Wiener Buchmesse 2014 nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland. Lange und laut habe er versucht, den Westen wachzurütteln, doch einige Länder wollten es nicht wahrhaben. "Ich will nicht von dem Westen sprechen, ich will es nicht verallgemeinern. Wir sehen zum Beispiel, dass Großbritannien ein ganz anderes Verhältnis zur Ukraine hat als Deutschland. Und natürlich verstehen uns die Länder, die selbst russische Aggression und Okkupation erfahren haben - wie die baltischen Staaten oder die Tschechische Republik - sehr gut", sagt Andruchowytsch. In Deutschland hingegen sei die prorussische Einstellung nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem untrennbaren Teil deutscher Identität geworden. Die Deutschen hegten eine große Verehrung und übertriebe Sympathie für alles, was russisch ist.
Andruchowytsch aktueller Roman "Radio Nacht" erscheint diesen Sommer auf Deutsch. Er freue sich auf die Lesereise, sagt er und hofft, dass sie stattfinden kann. Aber danach führe der Weg wieder zurück in die Heimat - die seit dem 24. Februar unter Russlands Angriffskrieg zu leiden hat.
Schreiben im Exil
Zurückkehren, das kann Volha Hapeyeva derzeit nicht. Sie verließ ihre Heimat Belarus 2019. Anfang August 2020 ließ sich Alexander Lukaschenko dort nach der umstrittenen Präsidentenwahl zum Sieger erklären - und verlor damit mehrheitlich das Vertrauen der Bevölkerung. Es folgten landesweite Massenproteste mit weiß-rot-weißen Flaggen, dann folgten Festnahmen, Folter und Einschüchterungen. Volha Hapeyeva entschied sich, im Ausland zu bleiben - die Schriftstellerin wurde PEN-Stipendiatin des Programms "Writers-in-Exile".
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"Ich stand einmal auf der Treppe vom Palast der Republik in Minsk, und sofort kam ein Polizist auf mich zu. Ich las dort einfach ein Buch, aber er meinte, ich könne da nicht sitzen. Es sind diese Kleinigkeiten, die einem zeigen, dass die Stadt nicht mehr den normalen Bürgern gehört. Du kannst als Bewohner nichts machen, die Stadt gehört der Regierung", sagt Volha Hapeyeva. Je mehr sie darüber nachdenke, was Heimat wirklich sei, desto mehr verstehe sie das Konzept von Heimat als etwas Globales. "Oft denke ich daran, in die Berge oder Wälder zu gehen, wo ich nicht erklären muss, wer ich bin und was für einen Pass ich habe oder warum ich kein Visum besitze. Worte wie Exil, Flüchtling, Emigrant sind nur für Gemeinschaften, Länder, Staaten relevant. In der Natur bin ich frei, und die Versuchung ist groß, zu denken, dass dieser Planet meine Heimat ist und dass ich mich überall auf ihm zu Hause fühlen kann."
Auf Deutsch ist unter anderem Hapeyevas Lyrikband "Mutantengarten" erschienen. Einige ihrer Gedichte sind auch in der aktuellen PEN-Anthologie "Stimmen aus dem Exil: In der nie endenden bernsteinfarbenen Nacht" zu lesen. Darin verarbeitet sie auch die Ereignisse in der Ukraine. Seit 2017 übersetzt sie Texte für die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), die sich jahrelang - vergebens - darum bemühte, den Konflikt in der Ostukraine zu regulieren. Auch private Briefe bekam sie dabei zu Gesicht, die sie in ihrem Gedichtband verarbeitete.
und hier bin ich in der gefängniszelle und schreibe einen brief
und hier bin ich im schützengraben versuche die handschrift zu lesen
schickt mir warme socken und ein schachspiel
euer sohn
2017
Leben und Schreiben im Exil
Wenn das Publizieren im eigenen Land zu gefährlich wird, gibt es für viele Schriftsteller nur eine Möglichkeit, um weiter schreiben zu können: die Flucht ins Exil.
Bild: Stuart Dee/robertharding/picture alliance
Stella Nyanzi aus Uganda
"Lächeln als Waffe, um jene zu verblüffen, die uns brechen wollen", so lautet der Schluss eines ihrer Gedichte. Stella Nyanzi schreibt im Stil der "radikalen Unhöflichkeit" gegen das Patriarchat in Uganda. Sie saß mehrmals in Haft, u.a. wegen Beleidigung des Präsidenten und dessen Frau, die sie als "ein paar Arschbacken" bezeichnet hat. Heute lebt die PEN-Stipendiatin in München.
Bild: Sumy Sadurni/AFP/Getty Images
Abdulrazak Gurnah aus Sansibar (Tansania)
Gurnah stammt von der zu Tansania gehörenden Insel Sansibar. Der damalige Präsident Karume hatte es auf den arabischstämmigen Teil der Bevölkerung abgesehen. Der spätere Literaturnobelpreisträger, der arabische Vorfahren hat, floh 1968 ins Exil. Zu seinen wichtigsten Werken gehört der Roman "Schwarz auf Weiß", in dem er die Vertreibung der Araber durch die schwarze Bevölkerung thematisiert.
Bild: Matt Dunham/AP/picture alliance
Isabel Allende aus Chile
"Das Geisterhaus", in dem sie die politischen Veränderungen vor und nach dem Militärputsch in Chile (1973) darstellt, ist ihr größter Erfolg. Allende, die 1975 ins Exil nach Venezuela ging, ist eine der meistgelesenen Autorinnen in spanischer Sprache. "Es ist gut, in einer fremden Umgebung zu sein, wenn man schreibt. Es zwingt einen, die Welt aufmerksamer zu beobachten und zuzuhören", sagt sie.
Bild: Oscar Gonzalez/NurPhoto/picture alliance
Wendy Law-Yone aus Myanmar
Vor dem Militärputsch gründete ihr Vater die Zeitung "The Nation", die erste englischsprachige Zeitung im unabhängigen Burma. Dann kam 1962 der Militärputsch, ihr Vater wurde verhaftet. Fünf Jahre später verließ sie ihr Geburtsland als Staatenlose. Seither lebt sie in London und der Provence. Zu ihren bekanntesten Büchern zählt die Autobiografie "A Daughter's Memoir of Burma" (2014).
Bild: Jörg Sundermeier
Taslima Nasrin aus Bangladesch
Die Autorin des Erfolgsromans "Scham" kämpft seit Jahren gegen den islamischen Fundamentalismus. 1993 hatten islamische Geistliche wegen der feministischen und religionskritischen Aussagen Taslima Nasrins in einer Fatwa zu ihrer Tötung aufgerufen. Nasrin floh aus ihrem Land, nachdem sie mehrere Drohungen von islamistischen Gruppen erhalten hatte, und lebt seitdem in vielen Ländern.
Bild: Chandan Khanna/AFP/Getty Images
Salman Rushdie aus Indien
Salman Rushdie stammt aus dem indischen Bombay, wo er am 19. Juni 1947 als Sohn einer muslimischen Familie geboren wurde. Sein erster Roman floppte, der zweite, "Mitternachtskinder", machte ihn berühmt. Sein Werk "Die satanischen Verse" brachte ihm Todesdrohungen ein. 2007 hat Königin Elizabeth II. den vielfach ausgezeichneten Autor und Kämpfer für die Meinungsfreiheit zum Ritter geschlagen.
Bild: Hannelore Foerster/Getty Images
Bei Ling aus China
Bei Ling wuchs in Shanghai und Peking auf, bis er 1988 erstmals in die USA reiste. Dort lernte er andere Exil-Chinesen wie Ai Weiwei und Liu Xiaobo kennen. Als er 2000 in seine Heimat zurückkehrte, wurde er kurzzeitig inhaftiert. Seit dem Haftaufenthalt in China lebt Bei Ling im Exil. Eins seiner bedeutendsten Bücher trägt den Titel: "Exiled: On China".
Bild: gezett/imago stock&people
SAID aus dem Iran
SAID, mit bürgerlichem Namen Said Mirhadi, wird 1947 in Teheran geboren. 1965 geht er fürs Studium nach Deutschland, wo er auch seine literarische Heimat findet. Zeit seines Lebens ist der Schriftsteller, dessen Künstlername "Der Glückliche" bedeutet, von Heimatlosigkeit und Einsamkeit geprägt. Das Exil ist seine literarische Inspiration und gleichzeitig die Quelle seines inneren Zwiespalts.
Bild: Martin Schutt/dpa/picture alliance
Mahmoud Darwisch, palästinensischer Autor
Mahmoud Darwisch war einer der einflussreichsten Lyriker der arabischen Sprache. Er hatte den Kampf um die Unabhängigkeit Palästinas immer wieder zum Thema gemacht. Als Mitglied der israelischen KP wurde er mehrfach inhaftiert. Dann floh er ins Exil und lebte in Beirut, Tunis, Paris. "Ein Gedächtnis für das Vergessen" und "Der Würfelspieler" gehören zu seinen berühmtesten Gedichtbänden.
Bild: Frank May/dpa/picture-alliance
Alexander Solschenizyn aus Russland
Bekannt wurde er mit "Der Archipel Gulag", in dem er über die Verbrechen des Sowjetregimes schrieb. Acht Jahre verbrachte er in Straflagern, 1974 wurde er ausgewiesen. 1994 kehrte er zurück und wurde zu einem Befürworter der russischen Politik und Unterstützer Putins. Von einer Symbolfigur des Widerstandes zum Verbündeten der autoritären Kräfte in Russland: Sein Erbe bleibt umstritten.
Bild: Sven Simon/imago images
Bertolt Brecht aus Deutschland
Einen Tag nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 floh Bertolt Brecht mit seiner Familie nach Paris und später weiter nach Dänemark. Kurz darauf wurden seine Bücher verbrannt und verboten. Seine Theaterinszenierungen waren lange davor von SA-Trupps gestört worden. 1941 zog Brecht mit Helene Weigel nach Los Angeles, erst 1949 kehrten sie nach Berlin zurück - in den Osten der geteilten Stadt.
Bild: HLG/ASSOCIATED PRESS/picture alliance
Thomas Mann aus Deutschland
Der berühmte Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger ("Buddenbrooks") nannte das Erstarken der Nationalsozialisten 1930 eine "exzentrische Barbarei". Im Frühjahr 1933 entschied die ganze Familie, aus den Ferien in der Schweiz nicht zurückzukehren. Sie zog erst nach Frankreich und siedelte 1938 in die USA über. Das Thomas-Mann-Haus nahe Los Angeles ist heute ein deutsches Kulturzentrum.
Bild: Fritz Eschen/akg-images/picture alliance
Hannah Arendt aus Deutschland
In der Hinwendung deutscher Publizisten und Philosophen zum Nationalsozialismus, etwa von Martin Heidegger, sah Hannah Arendt ein Versagen der Denker. 1933 emigrierte sie mit ihrem Mann nach Paris und verhalf jüdischen Jugendlichen zur Flucht nach Palästina. Als 1940 zahlreiche deutsche Flüchtlinge in Paris interniert wurden, floh Arendt mit ihrer Mutter und ihrem zweiten Ehemann nach New York.
Bild: AP/picture alliance
Vladimir Nabokov aus Russland
Nabokovs Leben war ein Leben auf der Flucht - zuerst floh die Familie 1917 vor den Bolschewiken nach Deutschland, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste er ein weiteres Mal fliehen. Zusammen mit seiner jüdischen Frau emigrierte er in die USA. Bekannt wurde er durch seinen Roman "Lolita" (1955). In den 1960ern kehrte er wieder nach Europa zurück. Er starb in der Schweiz.
Bild: Pino/MP/Leemage/picture-alliance
Iwan Bunin aus Russland
Um 1900 war Bunin ein berühmter Autor von Kurzgeschichten. Als Gegner der Oktoberrevolution musste er 1918 Moskau in Richtung Odessa verlassen. Ein Jahr später sah er sich gezwungen, aus seiner Heimat für immer zu fliehen. Er ging nach Frankreich, wo er bis zu seinem Tod lebte. Als erster Russe erhielt er 1933 den Literaturnobelpreis. "Das Leben Arsenjews" ist eines seiner berühmtesten Werke.
Bild: akg-images/picture alliance
Victor Hugo aus Frankreich
Der Schriftsteller von "Der Glöckner von Notre-Dame" und "Les Misérales" hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts gegen den Staatsstreich aufgelehnt, mit dem sich Bonaparte 1851 zum Präsidenten auf Lebenszeit machte. Daraufhin wurde er aus Frankreich verbannt. Auch im Exil blieb er seinem Engagement für die Gleichheit der Menschen, gegen die Todesstrafe und das Elend, unter dem das Volk litt, treu.
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Künstler in zwei Welten
"Halb Vogel bin ich, halb Baum: Eine Hälfte will Wurzeln schlagen, die andere fliegen", schreibt Umar Abdul Nasser. Auch seine Texte sind in der aktuellen PEN-Anthologie zu lesen. Zwei Jahre versteckte sich der irakische Schriftsteller und Sänger vor dem sogenannten IS, bis ihm die Flucht gelang. Heute lebt er in Deutschland und ist - wie Volha Hapeyeva - PEN-Stipendiat. Die Erinnerung an die Heimat und die Ereignisse vor der Flucht sind noch lebendig. "Wenn ich an meine Kindheit zu Zeiten von Saddam Hussein denke, denke ich an Angst. Angst, etwas zu sagen, Angst, etwas zu machen, Angst, dass mein Vater gefangengenommen wird. Und später während der IS-Herrschaft haben wir jeden Tag mit dem Tod gelebt. Jeden Augenblick können die an der Haustür stehen. Sogar die wenigen freien privaten Räumen, wie das Innenleben in einer Wohnung, war nicht mehr vor der IS sicher", erinnert sich Umar Abdul Nasser.
Er flüchtete sich in die Welt der Gedanken und fand in der Literatur einen sicheren Hafen. Er schrieb Gedichte, um das Geschehen um ihn herum zu verarbeiten. Später flüchtete er nicht nur gedanklich vor dem Terror, sondern ganz real - zunächst nach Polen; heute lebt er in Deutschland. "Ich liebe die irakischen Menschen, ich liebe mein Land, aber zugleich sehe ich aus der Ferne die Probleme viel klarer", sagt er. "Das Leben im Exil hat mit die Augen geöffnet."
"Stell dir vor, du bist an meiner Stelle. Geboren mit meiner Hautfarbe, so alt wie ich jetzt, mit derselben Adresse. Stell dir vor, du bist in einem Land geboren, das du nicht ausgewählt hast, aufgewachsen zwischen Kriegen, an denen du nicht schuld bist. Dein Pass öffnet eher Gefängnistore, als dir Zugang zu anderen Ländern zu gewähren. Gefangen zwischen den Zeiten, gehst du von einem Krieg, den du dir nicht ausgesucht hast, zu einem anderen, den du ebenfalls nicht gewählt hast. Du gehst unentschlossen und weißt nicht, wie das alles begonnen hat und wie du weggehen sollst…", schreibt Umar Abdul Nasser in seinem Text "Flüchtling sein".
Schreiben, wenn in der Heimat Krieg und Zerstörung herrschen, ist für ihn die seelische Rettung und die Flucht in die Freiheit.