Schriftsteller im Gespräch: Lukas Hartmann
27. November 2016Vordergründig liegt dem Roman "Ein passender Mieter" ein Kriminalfall zugrunde, der sich vor einigen Jahren in der Umgebung vonLukas Hartmann tatsächlich so abgespielt hat. "Ein passender Mieter" ist aber vor allem ein Roman über eine Familie, die an diesem Fall zerbricht. Der erwachsene Sohn verlässt das Haus der Eltern. An seiner Stelle zieht ein junger Mann in das zur Einliegerwohnung umgewandelte Zimmer des Sohnes. Dieser neue Mieter verbirgt ein dunkles Geheimnis. Hartmann greift mit dem Thema Familie ein Sujet auf, das in diesem Bücher-Herbst von vielen anderen Schriftstellern verarbeitet worden ist: eingefahrene Familienstrukturen werden auf eine harte Probe gestellt und in der Folge nicht selten gesprengt.
Kernthema der Literatur: Die Familie
Deutsche Welle: Herr Hartmann, ich habe Ihren Roman in erster Linie als Familienroman gelesen, vor allem als ein Buch über das Verhältnis von Eltern und Kind. Was hat Sie daran interessiert?
Lukas Hartmann: Alles was mit Familie, mit den Strukturen, der Dynamik, zu tun hat, ist ja immer ein Kernthema der Literatur gewesen. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert. Es gibt ja den berühmten Anfangssatz aus der "Anna Karenina" von Lew N. Tolstoi: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich". Natürlich ist es in der Literatur spannender, das Unglück zu beschreiben. Dauer-Glück hält man schwer aus. Und so geht es auch mir. Die Familie ist heute im Zentrum von großen gesellschaftlichen Veränderungen. Deshalb hab ich mich diesem Thema genähert.
Sie selbst sind ja Jahrgang 1944. Haben Sie in ihren eigenen Erinnerungen gekramt oder ist der Roman allein Ergebnis ihrer Phantasie?
Beides. Es geht ja auch um die zentrale Geschichte, dass diese Familie einen unheimlichen Mieter mit bestem Wissen und Gewissen aufnimmt. Das habe ich gleich in der Nähe, über die Straße hinweg, selbst erlebt. Das hat mich lange nicht losgelassen. Ich habe dann versucht, die Geschichte, die sich vor zwölf Jahren abgespielt hat, ins Fiktive herüberzulotsten. Also mit Familienmitgliedern, die in meiner Vorstellung entstanden sind. Auch der Gewalttäter, der da eine Rolle spielt, ist nicht derselbe wie in der Realität. Der Reale hat sich in der Untersuchungshaft umgebracht. Im Buch macht das der Täter nicht.
"Mich interessieren in Familien die traditionellen Rollen"
Abgesehen von der Kriminalhandlung, die das auslösendes Moment für die Familienkrise ist - "Ein passender Mieter" auch der Roman einer Ehe, und auch ein Roman über das Verhältnis von Eltern zu heranwachsenden Kindern. Warum fasziniert Sie dieses Thema Familienstruktur?
Mich interessieren bei heutigen Familien die immer noch traditionellen Rollenzuweisungen, die dann doch auf eine bestimmte Art aufgebrochen werden, weil man sie nicht mehr unbedingt so leben kann, wie noch vor einer Generation. Also, der Familienvater verdient sein Geld, wie es sein muss, in diesem Fall als wohlbestalteter Professor. Die Familienmutter ist fürs Kind zuständig, in diesem Fall das einzige Kind, und versucht sich auch zu behaupten in der Welt draußen: als Teilzeit-Buchhalterin. Und indem sie ehrenamtlich, das liegt dann auch hauptsächlich an den Frauen, den Kindern von Flüchtlingen Deutsch-Unterricht gibt. Ich habe diese Konstellation einige Male in der Nachbarschaft und in meinen Bekanntenkreis angetroffen. Es hat mich einfach gereizt, das zu beschreiben.
Wenn Sie den Roman vor 20 Jahren geschrieben hätten, wäre er dann aber anders ausgefallen? Es hat sich doch einiges verändert bei den Rollen innerhalb einer Familie während dieser Zeitspanne.
Ja, da hat sich viel verändert: die Rollen sind aufgebrochen, flexibler geworden. Aber es gibt doch immer noch eine Hinwendung zu ihnen. Für viele ist es schwierig von diesen Rollen-Mustern wegzukommen. Auch für den Sohn in meinem Roman, der auszieht und sich eine Partnerin sucht, die einen ganz anderen Frauentypus verkörpert als seine Mutter, dann aber von dieser starken jungen Frau überfordert ist.
"Ein passender Mieter" ist auch ein trauriger Eheroman. Man ist als Leser dicht dabei, wie die Ehe von Margret und Gerhard, den Protagonisten in ihrem Buch, zerbricht …
Ja und Nein. Es ist unbestreitbar, dass die Ehe auseinandergeht, weil mit dem Kriminalfall, mit dem Gewalttäter, ein "Meteor" in sie hineinfällt. Aber es ist doch auch so, dass sich Margret, indem sie sich loslöst, auf eine gewisse Weise auch befreit, ins Offene hinausgeht. Und vielleicht auch für sich selbst eine neue Chance ergriffen hat.
"Wir tragen den Schatten, den wir bei anderen beklagen, in uns selbst."
Sie haben den Einbruch des Kriminellen als "Meteor" bezeichnet, der die Familie sprengt. Ist das eine Art literarischer Trick, etwas Drastisches kommt von Außen und zerstört etwas sehr Eingespieltes? Ist das ein Kunstgriff, um die Dramaturgie voranzutreiben?
In gewisser Weise schon. Ich habe das ja über die Straße hinweg selbst miterlebt. Aber man kann das auch als literarischen Trick oder als eine Form, die man in dem Roman hinein nimmt, bezeichnen. Das ist letztlich das Unerwartete, das Unbegreifliche, das die Handlung vorantreibt, dass die Personen dazu treibt, sich selber anders zu begegnen. Ich finde es sehr wichtig, dass Margret das Dunkle, dass sie in dem Anderen, dem Mieter, erkennt, auch in sich selbst erkennen muss. Es ist ja oft so, dass wir den Schatten, den wir bei anderen beklagen, auch in uns selbst mittragen. Margret erfährt das am eigenen Leib.
Sie haben die einzelnen Kapitel den jeweiligen literarischen Protagonisten zugeordnet, verzichten aber auf eine durchgängige Erzähl-Perspektive. Mal nutzen Sie die Erste Person Singular, mal die dritte. Warum?
Das hat mich gereizt, weil ich finde, in der dritten Person habe ich als Erzähler ein bisschen mehr Raum, als wenn ich nur aus der Ich-Perspektive schreibe. Ich fand es spannend zu zeigen, dass die dritte Person Singular für mich als Autor ein paar mehr Möglichkeiten eröffnet, das Umfeld wahrzunehmen.
Lukas Hartmann: Ein passender Mieter, Diogenes Verlag 2016, 363 Seiten, ISBN 9783257069679.