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Politik

Schrumpfende Mitte im Europaparlament

27. Mai 2019

Die "Schicksalswahl" hat so viele an die Wahlurnen gebracht wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die großen Parteien schrumpfen. Es wird bunter im Europaparlament. Rechtspopulisten legen zu. Von Bernd Riegert, Brüssel.

Straßburg EU Parlament Plenarsaal
Bild: picture alliance / Wiktor Dabkowski

Die größte Überraschung bei der Europawahl ist die hohe Beteiligung. Rund 51 Prozent der 420 Millionen Wählerinnen und Wähler in der EU gaben ihre Stimme ab. Das sind acht Prozent mehr als bei der letzten Wahl vor fünf Jahren. Die Proteste gegen die Klimapolitik, streikende Schüler und die Abwehr europafeindlicher, rechtspopulistischer Parteien habe die Menschen offenbar mobilisiert, glaubt der Politikexperte Janis Emmanouilidis vom "European Policy Centre" in Brüssel.

Die liberale dänische EU-Kommissarin Margrethe Vestager sagt im DW-Interview, die Menschen hätten erkannt, dass Wählen Macht sei. "Diese Macht sollte man nutzen und die Leute sagen, dass es um etwas geht", meinte Vestager, die selbst Präsidentin der EU-Kommission werden will. "Es kandidieren Parteien, die die EU zerstören wollen. Es kandidieren Parteien, die sich nationalistisch nennen, aber ihr Land an die Russen verkaufen. Das hat die Leute dann wohl denken lassen, man sollte diesmal wirklich wählen gehen." Der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, Frans Timmermans, freute sich, dass die hohe Wahlbeteiligung "ein tolles Signal für eine funktionierende Demokratie" sei.

Liberale und Grüne gewinnen

Kräftig zugelegt haben die Liberalen und die Grünen im Europäischen Parlament. In Deutschland landen die Grünen mit gut 20 Prozent der Stimmen sogar vor den Sozialdemokraten auf dem zweiten Platz hinter der konservativen Union. Das ist das beste Ergebnis, das die grüne Partei bei einer bundesweiten Wahl jemals erzielt hat.

Der schwer enttäuschte Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Udo Bullmann, räumte gegenüber der DW ein, dass seine Partei das Thema Klimapolitik unterschätzt habe. Da wolle man nachbessern. Auch die CDU-Vorsitzende Annegret Kamp-Karrenbauer gestand in Berlin Defizite beim Umweltthema Nummer eins ein. Sie war aber dennoch zufrieden, dass die konservative Union, trotz Verlusten stärkste Partei in Deutschland und auch stärkste Fraktion im Europäischen Parlament bleibt.

Manfred Weber, der Spitzenkandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP). erhob am Abend Anspruch darauf, jetzt auch Präsident der EU-Kommission zu werden. "Wir haben keinen tollen Sieg errungen, aber wir sind die stärkste Gruppe", sagte der CSU-Politiker in Brüssel. Er rief die anderen pro-europäischen Parteien zur Zusammenarbeit auf und richtete sich ausdrücklich auch an die Grünen. "Die Grünen sind auch die Gewinner des Tages. Darum sind sie mögliche Partner. Wir sollten uns zusammensetzen und ein Mandat für die nächsten fünf Jahre entwerfen."

Christdemokraten bleiben stärkste Gruppe

Im Europäischen Parlament verfügt Webers EVP nach vorläufigen Berechnungen über 180 Sitze. Das sind 42 weniger als bisher. Die Sozialdemokraten schrumpfen ebenfalls und landen bei 151 Sitzen. Die Liberalen kommen auf 86 Mandate. Die Grünen wachsen von bisher 52 auf 69 Sitze an. Die Rechtspopulisten sind in einigen der 28 Mitgliedsländern wie Italien oder Frankreich sehr stark, bleiben aber insgesamt etwas unter den Prognosen. Sie haben alle zusammen etwas mehr als 150 Sitze, die sich aber auf drei unterschiedliche Fraktionen verteilen. Die deutschen Nationalisten von der AfD legten nicht so stark zu wie erwartet, konnten aber in den Bundesländern Sachsen und Brandenburg die meisten Stimmen holen und sich noch vor die Union schieben.

Rechtspopulisten legen zu

Der Brüsseler EU-Experte Janis Emmanouilidis weist darauf hin, dass die europafreundlichen Parteien immer noch rund 80 Prozent der Sitze halten. "Als Gruppe sind die Rechtspopulisten insgesamt nicht so stark wie das einige vorher angemahnt haben. Wir wussten immer schon, dass sie keine Mehrheit haben würden, aber sie sind vielleicht schwächer, als wir gedacht haben." In Italien hat die rechte Lega von Innenminister Matteo Salvini die meisten Stimmen geholt. In Frankreich hat die Rechtsaußen-Politikerin Marine Le Pen die Partei des französischen Präsidenten geschlagen. "Macron hat wirklich versucht, sein eigenes politisches Gewicht in die Waagschale zu werfen, um zu verhindern, dass Marine Le Pen mit ihrer Partei die Nase vorn hat. Und das hat er nicht geschafft", analysiert Emmanouilidis.

Janis Emmanouilidis im Europaparlament in Brüssel: Wahl verlief wie erwartetBild: DW/B. Riegert

In vielen der 28 Mitlgliedsstaaten lässt sich beobachten, dass die bisher großen Parteien der Mitte schrumpfen. Liberale, Grüne und rechte Parteien werden stärker. Die Wahlforscher in Brüssel sprechen in der Wahlnacht von einer zunehmenden Fragmentierung. "Wir sehen, dass die großen Parteien Federn lassen müssen und dass es eine breite Koalition geben muss, um eine Mehrheit zu finden", so Janis Emmanouilidis von der Denkfabrik "European Policy Centre". Im künftigen Europäischen Parlament erreichen Konservative und Sozialdemokraten als informelle Große Koalition keine Mehrheit mehr wie bisher üblich. Sie müssen sich mit der liberalen und vielleicht auch der grünen Fraktion zusammentun.

Eine Mehrheit links der Mitte aus Linken, Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen geht rechnerisch nicht auf. Eine Mehrheit rechts der Mitte kommt auch nicht in Frage, weil die Christdemokraten auf keinen Fall mit Nationalisten und Rechtspopulisten zusammengehen wollen. "Von jetzt an wird es kompliziert, weil keiner ohne den anderen eine ausreichende Mehrheit zusammenbekommt. In den nächsten Tagen wird also sehr interessant, wer mit wem spricht, um die Dinge ans Laufen zu kriegen", sagte mit Blick auf die Fragmentierung des Parlaments die liberale Spitzenkandidaten Vestager im DW-Interview.

Premiere vor dem Europaparlament: Zum ersten Mal gab es eine Wahlparty für normale Bürgerinnen und BürgerBild: DW/B. Riegert

Ausnahme-Wahl in Großbritannien

Besonders ungewöhnlich war die Europawahl im Vereinigten Königreich, dass die EU ja verlassen will, aber den Brexit nicht rechtzeitig vor der Wahl organisieren konnte. Am Freitag hatte die britische Premierministerin Theresa May deshalb ihren Rücktritt angekündigt. Die neue "Brexit-Party" des EU-Gegners Nigel Farage hat - wie vorhergesagt - die Wahl mit 31,5 Prozent haushoch gewonnen. Die regierenden Konservativen wurden schwer abgestraft.

In Griechenland verlor der linkspopulistische Premier Alexis Tsipras gegen die konservative Opposition. Er setzte deshalb baldige Neuwahlen an.

In Österreich legte die Volkspartei des konservativen Bundeskanzlers Sebastian Kurz kräftig zu, obwohl er sich an diesem Montag einer Vertrauensfrage im nationalen Parlament in Wien stellen muss. Die Rechtspopulisten von der FPÖ, die in dieser Woche aus der Koalitionsregierung flogen, erreichten einige Prozentpunkte weniger Stimmen als vor der "Ibiza-Affäre" vorhergesagt. Der inzwischen zurückgetretene FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hatte 2017 einer angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen Staatsaufträge gegen Wahlkampfunterstützung in Aussicht gestellt, was in einem Video auf Ibizia festgehalten wurde.

In Deutschland freute sich der Satiriker Martin Sonneborn ganz besonders über den Wahlerfolg seiner "Partei". Er hat jetzt zwei Mandate in Straßburg sicher, aber immer noch kein Programm.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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