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PolitikBelarus

Schulkinder in Belarus werden auf Krieg gedrillt

Tatsiana Harhalyk
9. November 2025

Über die Hälfte aller Veranstaltungen an belarussischen Schulen thematisieren Krieg, Tod und Selbstaufopferung. Mit welchen Maßnahmen Kinder militarisiert werden und welche Ziele das Lukaschenko-Regime verfolgt.

Zwei Kinder sitzen auf einem T34-Panzer an einem Denkmal zu Ehren der Sowjetarmee bei Minsk
Kinder auf einem T34-Panzer an einem Denkmal zu Ehren der Sowjetarmee bei MinskBild: Caro/picture alliance

Es ist vier Uhr morgens. Sirenen heulen, überall ist Gewehrfeuer zu hören. Aus Zelten stürmen Jugendliche, 13 oder 14 Jahre alt, in Militäruniformen und mit Gewehren bewaffnet. Einige erwidern das Feuer, während andere, in die Hocke gehend, zu den Verwundeten rennen, die ebenfalls Schulkinder sind. Sie verbinden sie, legen sie auf Tragen und versuchen, sie unter Beschuss in Sicherheit zu bringen.

Dieses Video findet sich auf dem Instagram-Account der "Patrioten von Belarus". Als gesellschaftliche Organisation wurden die "Patrioten" im Dezember 2020 gegründet, kurz nach der Niederschlagung der Proteste gegen das gefälschte Ergebnis der damaligen Präsidentschaftswahlen in Belarus. "Respekt und Stolz auf die Staatssymbole der Republik Belarus fördern" und "die Souveränität und Unabhängigkeit des Staates wahren" - so lauten die auf ihrer Website formulierten Ziele. Das im Video gezeigte militaristische Turnier veranstalten die "Patrioten" unter der Bezeichnung "Herausforderung". Mit der Teilnahme an solch einem Manöver erleben Schüler der 9. und 10. Klasse aus dem ganzen Land eine Atmosphäre wie beim Militär.

Mit Kriegsspielen, Übungen, Besuchen bei Militäreinheiten und Vereidigungszeremonien bereitet das Regime von Machthaber Alexander Lukaschenko offenbar Schulkinder auf einen "heißen" Krieg an der Seite Russlands vor. So sehen es die Autoren der Studie "Kinder ohne Zukunft: Die Militarisierung der Kindheit in Belarus".

Überlebensstrategie des Lukaschenko-Regimes

Die Militarisierung von Kindern in Belarus ist demnach eine "Überlebensstrategie des Regimes". Erstellt wurde die Studie von BelPol, einer Vereinigung ehemaliger Sicherheitsbeamter, und der Volks-Antikrisenverwaltung (NAU). Beide Organisationen wurden von Lukaschenko-Kritikern gegründet und arbeiten im Exil. Wie NAU-Leiter Pawel Latuschko erläutert, begann nach den Protesten von 2020 im Land eine "systematische Arbeit zur Heranbildung einer neuen Generation loyaler Bürger". Hintergrund ist auch der Personalmangel bei Lukaschenkos Sicherheitskräften, weil junge Menschen nicht mehr in den repressiven Staatsorganen arbeiten wollen. Daher beschloss das Regime, "gezielt zukünftige Sicherheitskräfte heranzubilden".

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko mit dem russischen Wladimir Putin in MoskauBild: Alexey Nikolsky/Photo host agency RIA Novosti/AP/picture alliance

Im Jahr 2022 wurde ein weiterer Grund erkennbar: die Vorkehrungen in Belarus für einen möglichen Krieg an der Seite Russlands. Ein wesentlicher Teil der Maßnahmen ist die Militarisierung von Minderjährigen, was unter anderem in einem staatlichen "Programm zur patriotischen Erziehung der Bevölkerung für 2022-2025" verankert ist.

Die Autoren der Studie stellen fest, dass über die Hälfte aller Schulveranstaltungen heute mit den Themen Krieg, Tod und Selbstaufopferung in Verbindung stehen. Schulkinder besuchen regelmäßig Militärbasen und Sicherheitsbehörden, wo ihnen Waffen und Spezialausrüstungen nahegebracht werden.

Tausende Schulkinder nehmen an Kriegsspielen teil

"Ich will mich als Soldat ausprobieren", "Ich will meine Widerstandskraft testen", "Ich will etwas Neues erleben", sagen Teenager im TV des belarussischen Verteidigungsministeriums auf die Frage, warum sie an dem Turnier "Herausforderung" teilnehmen.

Mehr als 35.000 Schüler durchlaufen jährlich solche Kriegsspiele. Neun- und Zehnjährige schlüpfen in die Rollen von "Pionieren" und "Sanitätern". Elf- bis Vierzehnjährige lernen schießen. In der nächsten Stufe, bei Spielen mit Bezeichnungen wie "Adlerjunges", erleben einige Jugendliche sogar Übungen, bei denen ein Panzer über Menschen in Schützengräben fährt. So solle den Heranwachsenden vermittelt werden, keine Angst vor Schüssen, Explosionen und Blut zu haben, sagt Matvey Kupreychik von BelPol.

In dem TV-Bericht zeigen sich die Kinder begeistert. "Im Schützenpanzerwagen gab es mehr Adrenalin, er war schneller. Aber im Panzer war es viel aufregender. Was für eine Panzerung! Was für ein mächtiger Panzer! Ich möchte an der Militärakademie zum Panzerfahrer ausgebildet werden. Das ist mein großer Wunsch", schwärmt ein Junge. "Das Turnier 'Herausforderung' hat mich mental gestärkt. Es gibt Vorschriften und Befehle, die man befolgen muss, ob man will oder nicht. Bei dem Turnier kann man viel lernen", erzählt eine andere Teilnehmerin.

Wiederbelebung sowjetischer Praktiken

Kriegsspiele sind in Belarus nichts Neues, sie waren schon in der Sowjetzeit weit verbreitet. Eine weitere Tradition aus dieser Vergangenheit ist der Einsatz von Militärausbildern, die in Schulen die Grundlagen der militärischen Ausbildung vermitteln. An allen Bildungseinrichtungen in Belarus wurden solche Positionen wieder eingeführt. Die meisten Militärausbilder sind ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte.

"Die Militarisierung wird durch eine intensive ideologische Indoktrination verstärkt. Lehrbücher werden regelmäßig umgeschrieben, um der politischen Agenda der Machthaber zu entsprechen. Schulleitungen und Bildungsbehörden sind gezwungen, systematisch der Staatsanwaltschaft Bericht zu erstatten", schreiben BelPol und NAU.

Bislang wurde an 220 belarussischen Schulen ein militärisch-patriotischer Unterricht eingeführt, der von rund 4000 Schülern besucht wird. Weitere 1800 Jugendliche sind in neun Kadettenschulen eingeschrieben. Mehrere Bildungseinrichtungen bieten Kurse für Drohnenpiloten an. Hier lernen Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren den Umgang mit FPV-Drohnen, die zur Zerstörung feindlicher Ausrüstung und Truppen entwickelt wurden. In den Schulferien werden Kinder und Jugendliche zu militaristischen Lagern eingeladen. Im Schuljahr 2023/24 nahmen über 57.000 Jugendliche daran teil.

Drohnen spielen bei Russlands Krieg gegen die Ukraine eine wichtige RolleBild: Reuters

Die Mittel für die Militarisierung von Schulkindern, offiziell als "militärisch-patriotische Erziehung" bezeichnet, stammen aus dem Staatshaushalt, von Stiftungen und aus freiwilligen bzw. obligatorischen Spenden von Organisationen und Unternehmen im Land. Einen Teil der Finanzierung hat der präsidiale Sportklub übernommen, der von Dmitrij Lukaschenko, einem der Söhne des belarussischen Machthabers, geleitet wird.

"Massenhafte Militarisierung untergräbt das Bildungssystem"

Der Staat erreiche sein Ziel der Militarisierung von Kindern unter anderem auch dadurch, sagt Matvey Kupreychik, dass Absolventen militärisch-patriotischer Kurse und von Kadettenschulen sowie Mitglieder militaristischer Vereine bei der Einschreibung an Universitäten bevorzugt würden. Auch Familien, deren Kinder in der militärischen Ausbildung gute Leistungen erbringen, erhielten finanzielle Anreize.

"Die massenhafte Militarisierung untergräbt das Bildungssystem und zerstört die Werte des Humanismus und kritischen Denkens. Kinder wachsen mit einer verzerrten Weltsicht auf, in der Gewalt und Unterwerfung als Norm gelten und in der sich ein Personenkult entwickelt und verfestigt", sagt Pawel Latuschko.

Nach Ansicht der Autoren der Studie verstößt das, was heute in Belarus geschieht, gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes zum Schutz der Rechte von Kindern. Es verletze die Freiheit von Meinung und Überzeugung, aber auch den Schutz von Kindern vor Ausbeutung, Propaganda und Beteiligung an Kampfhandlungen.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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